Samstag, 28. Mai 2016

Über Ehrgeiz, Versagen und Zieldefinition

Ich dachte immer, ich sei faul. Mit geringem Aufwand so gut wie möglich durchkommen - so habe ich zum Beispiel mein Abi bestanden. Als mir zum ersten Mal jemand im Zusammenhang mit Sport, konkret Laufen, gesagt hat, ich sei ehrgeizig, musste ich eine Weile darüber nachdenken. Bin ich das? Ehrgeizig ist für mich jemand, der in einer Sache alles daran setzt, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Der viel lernt oder trainiert, um jeden Preis jedes Detail optimiert, immer wieder alles in Frage stellt, zu den besten gehören will. Der Duden sagt dazu: Ehrgeiz = starkes oder übertriebenes Streben nach Erfolg und Ehren. Typische Verbindungen: unbändig, anstacheln, zerfressen, krankhaft, Eitelkeit. Aber auch: befriedigen, Ausdauer, Intelligenz, Fleiß.

Ich würde noch immer sagen: Nein, ich bin nicht ehrgeizig, ich mache schließlich nicht alles perfekt. Ansonsten hätte ich einen effektiven Trainingsplan, einen Ernährungsplan, würde auf dieses und jenes stärker achten. Ich hab aber was anderes: Ansprüche. Scheiße hohe Ansprüche. An mich selbst. Wusste ich erst mal gar nicht. In Gesprächen mit einigen Rookie-Triathleten, die dieses Jahr zum ersten Mal starten, ist mir das allerdings nochmal sehr bewusst geworden - das ist der Grund für diesen Artikel.


Kurze Zeitreise:
September 2014, ich habe meinen ersten Triathlon gefinisht. Von den 5 km Laufstrecke bin ich gefühlt das meiste gegangen. Ok, ungeil, aber erster Triathlon, 5 km laufen klappte auch ohne schwimmen und radeln vorher nur so grade eben - also hey. Nicht so toll, aber naja. Schwamm drüber.
Mai 2015, zweiter Triathlon. Mittlerweile konnte ich 10 km halbwegs locker laufen und bin an die zweite Volksdistanz mit der Erwartungshaltung ran gegangen, dass ich die 5 km ja wohl locker durchlaufen werde. Bin ich nicht. Ich bin abwechselnd gerannt und gegangen. Am Ende stand als reine Laufzeit eine auf der Uhr, die ich zu dem Zeitpunkt definitiv nicht hätte laufen können - wie darin noch einige Gehpausen untergebracht sein können, ist mir bis heute ein Rätsel. Das Gefühl im Ziel: Versagen.
November 2015, erster Halbmarathon. Offizielles Ziel: Finishen. Inoffizielles, nicht ausgesprochenes Ziel: Gut durchlaufen. Offizielles Ziel erreicht: ja. Inoffizielles Ziel: sehr, sehr weit davon entfernt. Wandertag. Macht folgendes Gefühl im Ziel: Versagen. Erklär mal jemandem, der mit Sport nichts am Hut hat, wieso du dich scheiße fühlst, obwohl du was eigentlich Tolles geschafft hast.
Januar 2016, erster Lauf der Winterlaufserie. 10 km, ich war zuvor verletzt und die Erwartungen dementsprechend im Keller. Es lief trotzdem oder gerade deshalb spitze: ein toller, voll zufriedenstellender Lauf, neue Bestzeit. Gefühl im Ziel: Glück. Dankbarkeit. Seitdem läuft es. Der Halbmarathon bei der Winterlaufserie hätte besser kaum sein können; der Brückenlauf war hart, aber schnellin Breitscheid ist die 10-km-Bestzeit kürzlich erneut ganz schön gepurzelt - und zwar mit Spaß.


Warum erzähl ich den ganzen Quatsch? Weil ich davon überzeugt bin, dass der verdammte Schlüssel zu mehr Gelassenheit und weniger Druck ziemlich simpel ist: realistische Erwartungen. Natürlich will ich auch, dass immer alles perfekt läuft. Es gibt aber Situationen, bei denen ich weiß, dass es das voraussichtlich nicht tun wird. Bestes Beispiel: September 2015, meine erste Triathlon-Kurzdistanz. Ich habe damit gerechnet, dass ich die 10 km nicht am Stück laufen werde. Nicht nach dieser Radstrecke, nicht nach zwei Stunden Belastung zuvor. Schön wärs gewesen, aber unrealistisch. Ich konnte selbst meinen Plan, nur alle 2,5 km an den Verpflegungsstationen zu gehen, nicht einhalten. Das war mir nicht egal, aber ich habe es akzeptiert. Zum ersten Mal fühlte sich ein Finish, das nicht den Erwartungen entsprach, nicht nach Versagen an (und das lag nicht nur daran, dass der einzige Gedanke im Ziel "KLO! Sofort!" war).

Ich möchte mir eigentlich nicht anmaßen, kluge Ratschläge zu geben, weil ich auch nur aus meiner eigenen, bescheidenen Erfahrung berichten kann. Aber eventuell hilft es jemandem und deshalb möchte ich zwei Sachen sehr deutlich sagen:

1. Hör sehr genau in dich hinein. Hör nicht darauf, was du sagst, sondern was du fühlst. Vielleicht hast du vor anderen "nur ankommen" schon mal als Ziel ausgerufen. Vielleicht wäre das auch objektiv das Vernünftigste, aber fühlt es sich gut und richtig an? Könntest du damit zufrieden sein? Wie ist deine Erwartung, dein Anspruch an dich selbst wirklich?

2. Wenn du das rausgekriegt hast - hecke einen Plan aus. Mit A, B, von mir aus auch C und zur Not Z. Probiere mal realistisch einzuschätzen (oder frag Trainer, Lauftreffkollegen, etc.), was du schaffen kannst - das Ziel darf dir ruhig ein bisschen Angst einjagen, aber sollte nicht komplett an der Realität vorbei sein. Stimmt das in etwa mit den Erwartungen überein? Perfekt. Das ist Plan A. Könnte es noch ein klitzekleines bisschen besser laufen? Klar - du kannst dich natürlich jederzeit selbst übertreffen! Könnte etwas schief gehen? Klar! Vor allem im Triathlon.


Auf den Rennverlauf wirken so unheimlich viele Faktoren und äußere Bedingungen ein, dass du besser einen Plan B im Kopf hast. Auf den greifst du zurück, wenn nicht mehr alles optimal läuft, sondern du bestimmte Abstriche machen musst. Zum Beispiel langsamer radfahren, weil es regnet. In der Wechselzone mal kurz gehen und durchschnaufen, weil du spürst, das wäre gerade nicht verkehrt. Brustschwimmen, wenn du nicht mehr Kraulen kannst. Ein Stück gehen, wenn du nicht mehr Laufen kannst. Wenn du es schaffst, Plan B anzunehmen, kannst du dein Rennen weitermachen und finishen, ohne dich wie ein Versager zu fühlen. Du erfüllst einfach einen anderen Plan. Ja, du konntest den Erwartungen von Plan A nicht gerecht werden, das ist später sicher etwas enttäuschend. Aber dafür gibt es Gründe, die du in Ruhe analysieren und beim nächsten Mal eventuell vermeiden kannst (zum Beispiel meine nicht ausreichende weil nicht vorhandene Ernährung beim Halbmarathon). Du kannst die Pläne mit Wunsch-Zielzeiten verknüpfen, für mich funktioniert es besser, auch das unterwegs anzupassen.

Plan C könnte übrigens sein: Nicht nur ein oder zwei Kleinigkeiten gehen schief, sondern so einiges. Du bist weit entfernt von "gut durchkommen" oder deiner angepeilten Zeit und es zählt nur noch, dass du überhaupt ankommst. Erlaub dir ruhig, stolz darauf zu sein, wenn du es schaffst! Du hast zwar nicht das erreicht, was du wolltest, aber du hast unter schwierigen Bedingungen unter Beweis gestellt, dass du dich durchbeißen kannst. Es gibt eine sehr breite Spanne zwischen "alles läuft perfekt" und "alles geht schief" - zwischen Erfolg und Versagen, egal ob objektiv oder subjektiv, liegt noch eine echt große Mitte. Kann wirklich nicht schaden, sich mit der mal anzufreunden, damit es nicht mehr nur diese zwei Optionen gibt.

Wenn das so klappt, sind wir übrigens bei den positiv konnotierten häufigen Verbindungen zu Ehrgeiz: eigene Erwartungen befriedigen, intelligente Pläne aushecken und Situationen analysieren, in der Vorbereitung und auf dem Weg zum Ziel Ausdauer und Fleiß beweisen. Ich finde, der eigene Ehrgeiz kann auch ruhig mal zu Höchstleistungen anstacheln (ich sag nur Autobahnbrückensprint!), viel wichtiger ist es aber, sich nicht davon zerfressen zu lassen, wenn es mal nicht so läuft wie gewünscht. Pläne anpassen ist nicht Versagen! Und jetzt: viel Erfolg bei den ersten Rennen!

Fotocredits: Bild 2: Christian Siedler; Bild 3: Raffael Herrmann.

Sonntag, 22. Mai 2016

Mallorca 2016 Tag 6 - Krönender Abschluss: Cap Formentor

Zwei Mal war ich schon am Cap Formentor. Ein Mal vor einer Ewigkeit mit dem Auto, das letzte Mal vor einem Jahr mit dem Rennrad. Mit brennenden Oberschenkeln, einer Herzfrequenz jenseits von gut und böse und vor allem mit vielen zu Fuß zurückgelegten Metern. Kilometern. Gefühlt hab ich vom Rückweg die meiste Strecke geschoben (ja, wer sein Rad liebt und so weiter, Blödsinn!), mich auf dem Hinweg auch mehr als genug gequält und dazwischen kurz die großartige Aussicht genossen. Dementsprechend schrecklich schön hat sich der Mythos Cap Formentor in mein Hirn gebrannt. Fantastisch und grauenvoll zugleich. "Das Cap" zieht sich seit Beginn der Mallorca-Woche durch sämtliche Fachsimpeleien über Radfahren, Berge und Grenzen, dient zum Vergleich ("Ist dieser Anstieg hier schlimmer als das Cap?" - "Haha, wart mal ab, bis wir wirklich am Cap sind!") ist zum Inbegriff geworden - wovon eigentlich genau?


Nachdem ich das Cap also vehement zur Legende glorifiziert habe, ist hoffentlich allen Teilnehmern unserer Rennradreisetruppe ein wenig mulmig zumute, als wir am letzten Urlaubstag aufbrechen. Seltsam, aber wahr: Ich habe eigentlich gar nicht so richtig Bock. Müssen wir bei der letzten Ausfahrt noch so leiden, können wir nicht irgendwas Schönes machen? Am Strand liegen, vielleicht?

Die Ruhe vor dem Sturm sind wieder die ersten 20 flachen Kilometer: 10 von Can Picafort bis Alcúdia und nochmal 10 bis Port de Pollença - die zufällig immer noch die schönsten Kilometer sind, die ich mir fürs Rennradeln so vorstellen kann. Breiter roter Radweg, flach, direkt am Meer. Ich meine wirklich direkt am Meer. Die Beine wollen ballern (achja, auf einmal doch!), aber sie dürfen nicht so recht. Die Jungs sind so vernünftig Spielverderber und meinen, wir bekommen noch genug zu tun. Mit dem Cap.


Ich hab das Höhenprofil noch recht gut in Erinnerung: Von Null auf gut 200 m rauf, komplett wieder runter, wieder hoch, wieder ein Stückchen runter, nochmal hoch. Dann den ganzen Quatsch zurück. Großer Spaß. Was ich auch noch ziemlich genau weiß: Beim letzten Mal musste ich schon vor dem ersten Aussichtspunkt die Wanderung beginnen. Das würde ich ja jetzt tendenziell schon ganz gerne vermeiden.

Der Berg beginnt direkt hinter dem Ort. Zack. Los gehts. Mit der ersten Serpentine kommt auch noch was anderes: meine Lust. Aufs Radeln. Klettern. Schwitzen. Ich bin am Berg und ich bin angekommen. Hab Bock. Also rauf da. Bis zur zweiten Kurve ist es zu einfach. Ich bin zu schnell, zu gut drin, es kommt mir zu flach vor. Ich bin beeindruckt von Läufern, die hier hoch laufen. Laufen! Hallo! Auf sonen beknackten Berg! Denen fällt wohl auch nichts besseres ein.

Kurze Pause, bis unsere Gruppe wieder komplett ist, dann gehts weiter. Schade eigentlich, dass hier nichts mit Kreide auf der Straße geschrieben steht. Fast ein bisschen langweilig. Also nur treten. Drücken. Ziehen. Klettern. Die Geschwindigkeit fühlt sich unterirdisch an. Dieses Mal mache ich nicht den Fehler, bei jeder Kurve zu glauben, sie könnte die letzte sein. Plötzlich ist sie es dann aber trotzdem: die letzte Kurve, der Aussichtspunkt dahinter, das Chaos aus Autos und Bussen auf dem kleinen Parkplatz. Ha! Die erste Hürde haben wir genommen.

"Bitte nicht die Klippen runter stürzen."


Wir tun, was man am Aussichtspunkt tun muss: Das Rad die Treppenstufen hochtragen, aufs Meer runter gucken, Fotos machen und sich von Autofahrern entgeistert fragen lassen, ob wir wirklich mit dem Rad hier hin gefahren sind, also so echt jetzt. Nein, wir haben die Räder im Kofferraum extra mitgenommen, um damit anzugeben.

Bevor es weiter geht, mache ich alle bekloppt, dass das ja nur der erste Anstieg war, dass sie bloß nicht glauben sollen, wir hätten es bald geschafft, dass wir die ganze Scheiße jetzt wieder runter müssen und dass das echt saumäßig ärgerlich ist, weil wir dann ja den nächsten Berg wieder von ganz unten hoch müssen. Und zurück, hab ich überhaupt schon erwähnt, dass der Leuchtturm ja ne beschissene Zwickmühle ist, weil es keinen anderen Weg zurück gibt als den Hinweg? Oder einen Hubschrauber?


Also denn, erste Abfahrt, wieder runter auf Höhe des Meeresspiegels. Zum Glück sind das hier nur gut 2,5 km bergab und nicht 1000 wie beim Kloster Lluc vor zwei Tagen. Das ist noch akzeptabel. Natürlich bremse ich trotzdem mehr als die drei anderen zusammen. Unten angekommen gehts durch den Ziegenwald und schon wieder leicht bergauf. Man kriegt ja nix geschenkt hier. Ein Gel und eine abgesprungene Kette später gehts dann an den nächsten richtigen Anstieg.

Die Beine sind noch zu gebrauchen, der Berg macht Spaß. Nur den Tunnel finde ich doof, schaffe es aber dieses Mal wenigstens, die Sonnenbrille vorher abzusetzen. Bergauf durch den Tunnel ist irgendwie uncool. Er ist dunkel, eng und zieht sich. Ich bin froh, als ich auf der anderen Seite wieder rauskomme. Bis zum Leuchtturm geht es noch ein wenig auf und ab. Das einzige, was hier richtig nervt, ist der Seitenwind. Vor allem an den Stücken zwischen den Bergen. Links Klippen: 150, 200 Meter und runter bis zum Meer. Rechts Felsen und ein paar Grashalme. Dazwischen: Straße. Und Wind, Wind, Wind. Ich möchte hier so langsam wie möglich entlang fahren, weil ich meine, dann besser auf die Böen reagieren zu können. Je aufrechter ich sitze, desto mehr Angriffsfläche biete ich aber dem Wind - noch ne tolle Zwickmühle.


Irgendwie schaffe ich es, doch nicht von der Straße abzukommen. Wider Erwarten zerschellt auch niemand samt Rad an den Felsen, stattdessen kommt meine Lieblingskurve auf der Strecke: Es geht auf gut 200 Metern Höhe geradeaus direkt aufs Meer zu, bis die Straße im letzten Moment plötzlich eine Kurve im Wilde-Maus-Stil macht. Nach der Biegung sehen wir zum ersten Mal den Leuchtturm und sausen ihm bergab entgegen - nur um dann die allerletzten Meter ein letztes Mal hoch zu klettern. Geschafft!


Wir sind da und ich bin etwas erstaunt, denn es geht mir gut. Klar, das war kein Spaziergang, aber ich habe keine Sekunde gedacht, es sei zu viel, ich könnte nicht mehr, wollte nicht mehr. Alles gut! Eine überteuerte Cola gönne ich mir trotzdem und mal kurz hinsetzen und die Beine ausstrecken tut auch gut. Und das Wichtigste: von oben aufs Meer runter gucken. Aussicht genießen. Berge bestaunen. Stolz sein. Vorsichtig schon mal den Anstieg für die Rückfahrt in Augenschein nehmen.


Der ist zwar eigentlich gar nicht so wild, aber mit komplett kalten Beinen macht er relativ wenig Spaß. Ziemlich genau gar keinen. Kacke. Wenn das so weit geht, wird der Rückweg ja ein Spaß - und ungefähr genauso aussehen wie im letzten Jahr: Wandertag. Ich befürchte das Schlimmste, will aber wenigstens nicht am allerersten Berg schon aufgeben. Die Beine machen zu, aber der Kopf will noch weiter, will unbedingt da hoch und zwar auf dem Rad und nicht zu Fuß. Und so kommen wir oben an. Erste kleine Abfahrt, Beine lockern, nächster Anstieg. Ha! Geht ja doch. Die Beine sind wieder warm und ich bin drin.

Das Auf und Ab ist auszuhalten, der einzig richtige doofe Moment ist der Tunnel. Dieses Mal setze ich die Sonnenbrille nicht ab, weil ich ja nur schnell eben bergab da durch rollen muss. Dämliche Idee. Ganz dämlich. Ich seh das Licht am Ende des Tunnels und sonst gar nichts. Mir wird schwummrig. Das Licht fängt an zu tanzen. Ein Auto kommt mir entgegen, ich bin damit beschäftigt, geradeaus zu fahren und zu bremsen. Habe keine Hand frei, um endlich die Brille abzusetzen, schaffe es aber trotzdem irgendwie, nicht überfahren zu werden und auch nicht gegen die Wand zu knallen. Schön. Tunnel vorbei, alles gut. Und dann gehts so runter, wie mir das gefällt: 3,5 km Zeit um 100 hm zurückzulegen und zwar geradeaus durch den Wald. Ok, der riecht nach Ziegen. Aber ansonsten ist es spitze. Endlich schnell fahren! Ohne Kurven, Klippen, Seitenwind.


Wir sind wieder ganz unten angekommen und ich rechne damit, dass der Spaß jetzt aufhört. Es geht ein letztes Mal rauf: auf 200 hm und zwar 3 km lang. Drei. Das ist ungefähr nichts. Wenn man schiebt, dauern diese 3 km ziemlich lange. Ich konzentriere mich auf den Asphalt vor mir, drücke und ziehe und versuche den niedrigsten Gang so lange wie möglich aufzusparen. Für Notfälle. Man darf sich den Straßenverlauf echt nicht angucken. Marcus weicht mir nicht von der Seite (das ist gut) und gibt Kommentare ab: "Ach du Scheiße! Guck mal da hoch!" (das ist nicht gut). Ich gucke nicht hoch. Dann kriechen wir um die Kurve und ich sehe, was er meint. Scheiße.

Es sieht schlimmer aus, als es ist. Wirklich. Aber nach reden ist mir nicht mehr zumute, also kurbeln wir schweigend und keuchend nebeneinander her. Nächste Kurve. Echt nah am Meer. Würde das Radeln mir nicht schon den Atem rauben, wäre es die Aussicht. Krasser Scheiß, die ist echt unglaublich schön! Und die Mischung ist so großartig: Die Anstrengung am Berg und gleichzeitig dieser dermaßen fantastische Blick auf dunkelblaues Wasser, schroffe Felsen und strahlend blauen Himmel. Diese Farben! Der Wahnsinn.

Schwer zu lesen, was oben auf der neuen Lieblingsmütze steht: Born to climb. Ha!
Die Steigung in der nächsten Kurve ist auch der Wahnsinn. Ich weiß, dass wir gleich oben sind, gleich, bald, irgendwann, nicht mehr weit. Den ersten Aussichtspunkt kann ich schon erahnen. Aber diese Steigung, Scheißdreck. Du kannst nicht mehr, wenn du "Ich kann nicht mehr" nicht mehr sagen kannst. Ich kann noch was sagen. "Es gibt keinen Schmerz!" Völlig am Ende, aber irgendwo finde ich noch ein Lachen und informiere Marcus und alle übrigen Radfahrer in der Nähe lautstark darüber, dass es keinen Schmerz gibt. Die letzten Meter schaffen wir jetzt auch noch. Irgendwie. 300 Meter. Ein Schild kündigt den Aussichtspunkt an. 150 Meter. So langsam dämmert mir, dass wir keinen Meter gewandert sind, sondern die ganze Scheiße komplett mit allem rauf und runter geradelt sind. Haha, geil!

Kurz warten, bis der Rest da ist und dann ist auch schon wieder Zeit, mir in die Hose zu machen. Die letzte Abfahrt. Ich will nicht. Würde am liebsten einfach schön flach bis nach Hause radeln. Flach und schnell. Hilft ja nichts, ich muss da runter. Zur Abwechslung fahren mein Vater und Marc vor, Marcus bleibt - vermutlich notgedrungen - erst mal hinter mir. Und selbst ich lahme Ente werde aufgehalten, weil vor mir eine Frau tatsächlich noch langsamer und noch vorsichtiger den Berg runter rollt. Schön zu sehen, dass jemand noch mehr Angst hat als ich. Das ist selbst mir zu langsam, also fasse ich mir ein Herz und überhole. Ich! Überhole! Bergab! Hahaha.


So langsam fängt es an, zumindest auf den geraden Strecken Spaß zu machen. Die Kurven bleiben beschissen. Es gibt tatsächlich Autofahrer, die in der Kurve überholen. Und mir somit auf meiner Spur entgegen kommen. Wäre ich nicht so langsam gewesen und hätte nicht so gut bremsen können und wäre ich nicht eh so weit außen gewesen... Echt ätzend. Wegen solcher Situationen habe ich bergab Angst. Schön zu wissen, dass wenigstens noch einer von unserer Truppe hinter mir ist. Falls mal irgendwas ist. Was auch immer. Zack, schon schießt er vorbei. Ok, dann krieg ich das auch alleine hin. Es geht ziemlich lange geradeaus, nur noch ein paar Kurven und dann komme ich tatsächlich unten an. Komplett. Die drei warten auf mich und ich muss erst mal feiern, dass ich die Abfahrt überstanden habe, wir alle, das ganze Cap, das ganze verdammte Ding und zwar auf dem Rad. Komplett.


Es geht nach Hause und die Beine sind noch nicht leer. Auf dem Rückweg darf ich noch was ballern - es ist die letzte Ausfahrt, die letzte Chance und ich will jede Gelegenheit nutzen. Also flitzen wir zurück von Port de Pollença über Alcúdia nach Can Picafort. Was für ein großartiges Gefühl, dass diese Sache mit dem Cap zwar mordsmäßig anstrengend war, aber noch nicht genug. Notiz fürs nächste Jahr: Mehr Berge.


Am Ende stehen auf dem Tacho: 80 km, Schnitt 21,8 km/h. Die Höhenmeter sind etwas strittig: Mein Strava behauptet 1.688, lügt aber vermutlich. Denn die Garmins von Marc und Marcus haben jeweils um die 930 hm getrackt. Hm. Ist ja so ähnlich.



Fazit:

Tiersichtungen lebendig: 18 Ziegen auf der Hinfahrt. Zurück habe ich bis 4 mitgezählt, bis mir eingefallen ist, es könnten auch die gleichen wie auf dem Hinweg sein - nächstes Mal also ne Spraydose zum Ziegen-Markieren mitnehmen.

Tiersichtungen tot: keine. Schön!

Autos: Sind scheiße. Überholen knapp, um dann direkt vor dir rechts abzubiegen. Oder überholen im Gegenverkehr in der Kurve. Gehts noch?

Berge: Schrecklich schön. Wenn die Abfahrten nicht wären, noch schöner.

Kilometer: In einer Woche Mallorca sind wir knapp 340 km geradelt. 270 waren es im Vorjahr, nächstes Mal dürfen es gerne noch ein paar mehr werden.

Zum Hotel geschlepptes Wasser: 27 Liter.

Verzehrte Oliven: 126.

Leute: Ich verstehe die Radfahrer nicht so ganz, die so eine großartige Strecke ganz alleine fahren. Kann bestimmt auch schön sein. Ist aber garantiert nicht mal halb so toll wie mit den richtigen Leuten. Ich vermute, nur wer mal zusammen einen Berg hochgekurbelt ist, kennt sich wirklich. Wenn die Beine schwer und die Luft knapp werden, ist keine Zeit mehr, sich zu verstellen. Danke, es hat riesigen Spaß mit euch gemacht! Ich freu mich drauf, mit dem einen Teil von euch den Velothon Berlin und mit dem anderen Teil die Cyclassics Hamburg zu rocken!


Dienstag, 17. Mai 2016

Mallorca 2016 Tag 5 - Coves d'Artà und Laufen-Schwimmen-Panieren

An Tag vier auf Mallorca gab es Berge und somit haben die Rad-Beine eine Pause verdient. Weil so komplett nur rumgammeln ja auch langweilig wäre, denken wir uns ein Alternativ-Programm aus: Höhlen von Artà besichtigen und ein bisschen laufen. Am Strand. Muss man ja schließlich ausnutzen, wenn man schon mal da ist.


Nach Artà hatte es uns ja am ersten Tag schon mal verschlagen. Jetzt fahren wir die gleiche Strecke (und noch ein Stückchen weiter bis Canyamel) mit dem Auto und ich klebe die ganze Fahrt über am Fenster und kanns kaum fassen: "HIER sind wir hoch geradelt?" Auf dem Rad sahen die Anstiege tatsächlich irgendwie harmloser aus. Verrückt. Aber jetzt weiß ich, wo die mehr als 700 Höhenmeter von der ersten Ausfahrt herkommen. 


Das Wetter ist eigentlich viel zu schön, um den Tag in einer Höhle zu verbringen - denk ich noch, als wir ankommen. Eigentlich habe ich auf große Touristen-Ansammlungen auch gar nicht so viel Bock, eigentlich finde ich 14 Euro Eintritt für eine beknackte Tropfsteinhöhle auch ganz schön happig und ganz abgesehen davon habe ich es nicht so sehr mit engen Räumen. Schon gar nicht unterirdisch. Prima Voraussetzungen, auf in die Höhle!


Offensichtlich haben wir alle doch noch was anderes neben Radklamotten im Koffer.
Wir dürfen nicht alleine durch die Höhle laufen, was ich extrem uncool finde, sondern müssen uns einer Führung anschließen. Die ist auf Spanisch, Englisch und Deutsch zugleich und es ist absolut unmöglich, irgendeinen Fakt zu vergessen, wenn man jeden Satz drei Mal hintereinander hört. Der größte Stalagmit Europas ist übrigens 22 Meter hoch und steht hier genau vor uns. Er hat noch ungefähr 5000 Jahre Zeit, bis er die wenigen Zentimeter bis zur Höhlendecke auch noch geschafft hat - und dann ist Ende mit Wachsen. Tja, schade.


Wir latschen durch alle möglichen Räume in der Höhle und sobald die Gruppe einen Saal verlässt, geht hinter uns das Licht aus. Zurückfallen lassen und auf eigene Faust erkunden ist also keine Option. Ich finde das alles so weit ganz nett und auch die Erklärungen halbwegs spannend, manche Formationen sehen echt verrückt aus und beeindruckend ist der ganze Spaß definitiv. Mich fasziniert die Vorstellung, dass die Leute, die vor 200 Jahren durch die gleichen Gänge gelaufen sind, so ziemlich das gleiche Bild gesehen haben: die Säulen waren alle nur 2 cm niedriger. So was beschäftigt mich - ob wirklich eine bunte Beleuchtung und Orffs "O Fortuna" im Himmel-und-Hölle-Saal nötig gewesen wäre, ist ne andere Frage.

Erst gegen Ende fällt mir auf, dass wir auf dem Weg durch die Höhle einen Haufen Treppenstufen zurückgelegt haben - immer wieder hoch und runter - schade für die Statistik, aber ich habe vergessen, mitzuzählen. Nach ner guten Dreiviertelstunde spuckt der Felsen uns mit dieser großartigen Aussicht wieder aus:


Weil es regnet und schließlich sogar gewittert, sitzen wir noch eine halbe Ewigkeit auf den Treppenstufen vor der Höhle, schauen aufs Meer, riechen den Regen und schmieden Pläne für den Rest des Tages. Meiner sieht so aus: Laufen, so lange es nicht zu warm ist. Regen ist dafür ja ziemlich prima.


Der Plan ist an sich gut, aber das Wetter ist schneller: Als ich startklar in Laufsachen am Strand bin, brennt die Sonne schon wieder ordentlich. Ich will mich echt nicht übers Wetter beschweren, aber so ein Lauf im Regen wäre auch schön gewesen! Schwupps ist es fast wieder 10° wärmer und damit weit entfernt von angenehmen Temperaturen zum Laufen. Aber egal: Das Meer, der Sand unter den Füßen und der Wind um die Nase entschädigen für alles.



Wie schon beim ersten Lauf am Anreisetag nehmen wir einfach den kürzesten Weg zum Meer. Bei der ersten Gelegenheit will ich von der Strandpromenade in den Sand wechseln - mal sehen, wie lange wir aushalten. Ich erinnere ich dunkel an Dienstsport-Zeiten als Rettungsschwimmerin an der Ostsee - damals mussten wir quer durch den tiefen Sand laufen und ich habe es gehasst. Natürlich. Aber wenn man sich selber aussuchen darf, wo man läuft (an der Wasserlinie), wie schnell man läuft (Wohlfühlpace) und wie lange man läuft (so lange wir wollen), dann sieht die Welt doch ganz anders aus.


Das Laufen am Strand ist trotz Schräglage und weichem Boden erstaunlich gut auszuhalten, nur ein bisschen anstrengender als normal, aber schön. Nach gut 3,5 km beschließen wir, eine kleine Pause einzulegen. Ist auch ganz schön warm geworden. Das Meer direkt vor den Füßen. Verlockend.


Die Triathlon-Hose sagt, sie will schwimmen, also Schuhe und Socken aus, T-Shirt aus und ab ins Meer. So eine Erfrischung müsste jede Laufrunde haben! Mit nassen Klamotten, halb paniert und barfuß gehts wieder an der Wasserkante zurück. Schuhe beim Laufen festhalten nervt zwar extrem, aber barfuß durch den Sand ist auch einfach zu gut... Wie oft kann man das zuhause schon machen?

Bei der letzten Gelegenheit dann: Füße duschen, Socken wieder an, Schuhe an und die letzten Meter Asphalt zurück rauf zum Hotel. 7 sehr entspannte, wunderbare Kilometer kommen dabei raus - ich bin für den Ruhetag völlig zufrieden und froh, nicht mit Trainingsplan angereist zu sein. "Irgendwann mal im Urlaub laufen" darf dann also abgehakt werden. Einzige minimale Sorge: Muskelkater. Vom barfuß Laufen, vom Sand, vom schrägen Boden. Das wäre fies - denn der letzte Tag auf dem Rad soll uns zum Cap Formentor führen. Nach der Tortur im letzten Jahr wären gute Beine da ganz hilfreich.




Stand der Dinge in der Oliven-Statistik von Tag 5: 109.

Donnerstag, 12. Mai 2016

Mallorca 2016 Tag 4 - Kloster Lluc. No hay dolor.

Ich wollte Berge. Ich habe Berge bekommen. Wie gerne würde ich jetzt irgendwas darüber schreiben, wie sehr ich Berge hasse. Über beschissene Anstiege, die nicht enden, über brennende Beine - aber es geht nicht. Eigentlich mag ich Berge wirklich nicht. Ich mag plattes Land, ich kann gerne weit gucken, ich verstehe Berge und Täler nicht, denn sie machen Wege umständlich und sie versperren die Sicht. Spätestens seit heute stehe ich nicht nur beim Radfahren auf Berge, sondern ich liebe es auch, wie die großen, schroffen Klötze so in der Gegend rumstehen. Seit Anfang der Woche schon bildet das Tramuntana-Gebirge die Kulisse für unsere flachen und hügeligen Touren. Majestätisch und furchteinflößend ragt eine ganze Bergkette hier einfach ziemlich weit nach oben, viel weiter, als mein rheinländisches Auge gewöhnt ist.


Mit einer Mischung aus Respekt und Vorfreude und noch ein bisschen mehr Respekt rollen wir los. Also zumindest in mir sieht es so aus. Ich hab Bock drauf, die Beine mal an ihre Grenzen zu bringen und ich hab gleichzeitig eine Scheißangst, dass viel zu früh entweder die Beine selbst oder der Kopf "Is nich! Du kannst uns mal!" beschließen und der Wandertag beginnt.

Praktischerweise sind mit Marc und Marcus noch zwei Radel-Kumpel aus der Heimat hier, so dass wir uns das Drama nicht zu zweit antun müssen. Wir nehmen also zu viert die nördliche Route zum Kloster Lluc: Erst mal geht es locker flockig durch Can Pic (die coolen Leute sagen nicht Can Picafort, habe ich gelernt), durch Alcúdia, Richtung Port de Pollença. Es gibt verdammt nochmal keine schönere Straße zum Radeln als die direkt am Meer genau hier. Das will ich ausnutzen und es ist einfach unmöglich, hier langsam zu fahren. Leider müssen wir bald in Richtung Pollença abbiegen. Alles klar. Weg von der Küste. Hin zu den Bergen.


Es beginnt harmlos. 14 km lang geht es minimal bergauf, ungefähr auf 100 Höhenmeter. Die merkt man kaum, wirklich nicht, ich fühle mich wie zuhause auf dem Panoramaradweg. Nur mit einer deutlich schöneren Aussicht als in Velbert. Die Berge kommen immer näher. Plötzlich stelle ich fest, dass ringsherum diese riesigen Dinger stehen und habe keine Ahnung, wie wir hier weiter kommen sollen. Wir sind umzingelt. Tunnel? Mittendurch? Nö. Rauf.

Und dann gehts zur Sache. 10 km nach oben, von 100 auf ungefähr 550 hm. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal höher als auf 240 Metern gewesen zu sein und das war letztes Jahr am Cap de Formentor. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals 24 km am Stück bergauf gefahren zu sein. Respekt ist vielleicht ein klitzekleines bisschen untertrieben. Relativ schnell teilen wir uns in zwei Gruppen, denn am Berg gilt nur ein Gesetz: Jeder fährt sein eigenes Tempo. Es ist unmöglich, langsamer oder schneller zu fahren, als es angenehm wäre. Angenehm. Haha.



Marcus und ich sind ein kleines bisschen flotter, Marc und mein Vater folgen uns. Am Anfang haben wir sogar noch genug Luft, um uns zu unterhalten. Ich denke an den Spruch "Du kannst nicht mehr, wenn du "Ich kann nicht mehr" nicht mehr sagen kannst!" und stelle fest: Ich kann noch. Dann werden die Sätze kürzer. "Ist das schön hier!" - "Guck dir die scheiß Berge mal an!" - "Das ist soo schön!" - "Schrecklich schön!" Ich mag die Berge. Sie sehen einfach unheimlich toll aus.


Die Straße ist voller Kreidebotschaften, wohl noch vom Ironman 70.3 am letzten Wochenende: "Vamos", "Go, go go". "Hopp mein Mädchen" bringt mich immerhin zum Lächeln. Ich versuche alle Namen und Anfeuerungen zu entziffern, bei den kyrillischen wirds schwer bis unmöglich, die anderen beschäftigen mich immerhin eine Weile. Sofort ins Herz trifft "no hay dolor" - es gibt keinen Schmerz. Was für eine Lüge. An diesem steilen Stück. Dreist. Wie schön, wenn man sich ihr hingeben kann. Nach "shut up legs" und "it's only pain" jetzt also ein neues Mantra: "no hay dolor".



Marcus schlägt vor, anzuhalten und auf die anderen beiden zu warten. Ich erkläre ihn für verrückt, weil ich es nicht für möglich halte, jemals wieder anzutreten, wenn wir einmal gestanden haben. 100 Meter weiter gebe ich zu, dass ich anhalten und Pause machen in Betracht ziehe. Nochmal 100 Meter später stehen wir am Straßenrand und lassen die anderen beiden aufschließen. Atmen, trinken, kurz die Aussicht genießen. Weiter radeln. Die ersten Meter geben wir uns der Illusion hin, es wäre jetzt alles leichter. Ist es auch. Kurz. Und dann melden sich die Beine wieder. Und die Lunge. Wir klettern weiter. "Go, go, go!" kommt mir bei unserem Witz von Tempo übertrieben vor. Ich frage mich, ob die Triathleten im Rennen eigentlich Zeit hatten, sich die Botschaften auf der Straße durchzulesen. Ob sie dann helfen, Kraft geben, ein Lächeln in schmerzverzerrte Gesichter zaubern. No hay dolor. Eine bittersüße Lüge, die ich mir heute noch oft gedanklich vorsage. Vielleicht sage ich das demnächst meinen Grundschülern, wenn sich mal wieder einer beschwert, dass ein anderer ihn mit einem Softball abgeworfen hat.

Wir legen noch die eine oder andere Trinkpause ein und noch bevor wir am Kloster ankommen, habe ich eine Flasche Wasser, eine Flasche Iso und ein Gel intus. Die Beine sind noch nicht komplett durch, haben schon schlimmer gebrannt, aber die kleinen Pausen tun gut. Ziemlich gut. Ich habe keinen Überblick, wie weit es noch ist, wie weit oben wir schon sind, was da noch kommen muss, was wir schon geschafft haben. Und plötzlich ist da eine Kuppe. Coll de Femenia, auf 515 Meter Höhe. Die Straße begrüßt uns mit "Hammer Time".



Pause, obligatorisches Poser-Foto, kurz mit anderen Radfahrern quatschen und dann: Hammer Time! Es geht abwärts. Und zwar erst mal lange geradeaus - so machen auch mir als Angsthase Abfahrten Spaß! Wir müssen nochmal etwas klettern, dann kommt auch schon die Abzweigung zum Kloster. Keiner von uns will sich das Kloster selbst angucken, wir wollen eigentlich nur eines: Wasservorräte auffüllen, Cola trinken, Eis essen.

Die 70er haben angerufen, sie wollen ihr Eis zurück.

Theoretisch müsste es jetzt nur noch bergab nach Hause gehen. Praktisch müssen wir erst mal aus dem Tal wieder raus, in dem das Kloster liegt - na schön. Die ersten Stimmen werden laut, dass man ja auch theoretisch, jetzt, wo wir schon mal hier sind, weiter bis zum Puig Major fahren könnte - sind ja nur noch über 300 Höhenmeter bis zum höchsten Berg der Insel, der für Rennradfahrer zu erreichen ist. Zum Glück merkt Marc, Sternzeichen Fuchs, ziemlich bald an, dass es mit den 300 hm nicht getan wäre und wir von dort ja auch noch irgendwie zurück kommen müssen. Also nein. Ich brauche außerdem auch noch Ziele fürs nächste Jahr - Sa Calobra können wir auch gleich mit auf die Liste schreiben, ist ja auch um die Ecke.

Wir halten uns also in Richtung Caimari und Selva. Ab jetzt geht es vorerst nur noch bergab. Ich kann das nicht genießen, weder die Aussicht, noch eine möglicherweise rasante Abfahrt, die nicht mehr vorhandene Anstrengung - nichts davon, denn für mich ist das anstrengend. Kein Wunder, wenn man die ganze Zeit "Ohgottohgottohgott" denkt, bei den kurzen geraden Stücken mal ein bisschen laufen lässt, nur um sich dann wieder fast die Finger taub zu bremsen, weil ich mit minus sieben km/h durch die Serpentinen gurke, um bloß nicht die Kurve zu schneiden. Hier fahren Autos, Reisebusse, Radfahrer, Ziegen rennen über die Straße, ich kann die Kurven nicht leiden und vor allem dann nicht, wenn ich sie nicht einsehen kann. Als die Jungs mir verraten, dass man Bremsen auch weich bremsen kann und ich um Himmels Willen nicht die ganze Zeit bremsen soll, und dass wir außerdem erst 100 Höhenmeter nach unten zurückgelegt haben, also noch 400 kommen, will ich mich kurz an den Straßenrand setzen und einfach da bleiben. Oder zu Fuß gehen. Oder den Bus nehmen. Wie ironisch, dass ich den Anstieg so gut weggesteckt habe, der Kopf schön bei der Sache war und jetzt wegen einer läppischen Abfahrt die Stimmung zu kippen droht. Ich reiße mich zusammen, rolle im Schneckentempo weiter den Berg runter und drehe dabei das langweiligste Actioncam-Video der Welt. Eventuell zeige ich hier irgendwann mal die Zeitraffer-Version.




Als wir endlich unten ankommen und es ein längeres flaches Stück Straße gibt, mache ich das, was mir wirklich Spaß macht: Schnell fahren und die Kontrolle behalten. Blöderweise kommt direkt danach ein kleiner Anstieg, den ich auch hoch düsen muss, dicht gefolgt von Marcus. Oben angekommen wollen wir auf den Rest warten und es passiert, was passieren muss: Ich klicke den rechten Fuß aus, setze ihn auf den Boden, drehe mich nach hinten um und kippe in Zeitlupe samt Rad auf die linke Seite. War ja klar: Ich mache mir bei der Abfahrt fast in die Hose, beschwöre Kollisionen mit Reisebussen herauf, befürchte wegrutschende Reifen, Bremsen, die nicht mehr greifen, sehe mich gegen Bäume prallen und Klippen hinunter sausen - nichts davon geschieht. Aber aus dem Stand kippe ich um. Und ramme mir dabei das große Kettenblatt so geschickt in die Wade, dass ich aussehe, als hätte ich mit einem riesigen Tier mit ziemlich vielen Krallen gekämpft. Das Tolle: Ich spüre keinen Schmerz (es gibt ja auch keinen!). Adrenalin ist schon ne prima Sache. Das Blut sifft aus dem Bein, vermischt sich mit dem Kettenfett und ich ärgere mich erst mal über meine eigene Doofheit, um mich gleich danach über das schön kühle Blut auf dem Bein zu freuen. Ups, Blut?!


Die restliche Rückfahrt ist unspektakulär, wir durchqueren noch ein paar Orte und sausen über eine frisch geteerte wunderbare Straße. Das Thema Nummer eins ist Lasagne. Auf einmal vergesse ich dann mein neues Mantra und stelle fest, dass es doch Schmerzen gibt. Sie sind in meiner rechten Wade, der zerstückelten, die immer dicker und blau wird und bei jedem kleinen Schlagloch ordentlich aufmuckt. Als dann noch übelster böiger Seitenwind dazu kommt, bin ich restlos bedient und will einfach nur nach Hause. Nach gut 80 km ist es geschafft. Die übrigen Fakten: 1.170 Höhenmeter, Schnitt 21,8 km/h (ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie wir das geschafft haben), Höchstgeschwindigkeit 50 km/h (ich habe nicht die leiseste Ahnung, wann ich die gefahren sein soll, bei der Serpentinenabfahrt kanns nicht gewesen sein).



Puh. Das war anstrengend, aber sehr großartig!

Sonstige Beobachtungen und Erkenntnisse:

Lügen sind kein Problem, wenn man weiß, dass sie gelogen sind, man aber trotzdem an sie glauben will.

Diese Beine sind doch müde zu kriegen.

Tiersichtungen lebendig: elf Pferde (davon eins mit Flecken und eins mit Punkten), sechs Ziegen, fünf bis sieben Weinbergschnecken, sehr viele Schafe.

Tiersichtungen tot: eins undefinierbar, einmal nur Eingeweide, ein Vogelküken.

Bisher verzehrte Oliven: 95.