Dienstag, 27. September 2016

Berlinmarathon 2016: Party hard

Berlin, Marathonsonntag, 8 Uhr. Hinter mir liegen 285 Stufen. Ich stehe oben auf der Siegessäule, fröstele leicht und beobachte das Treiben unten. Vorfreude. Es ist perfektes Laufwetter: klar und sonnig, etwas frisch, aber nicht kalt und auch nicht zu warm. Zum Warten ein bisschen kühl, aber ich wollte ja unbedingt rechtzeitig hier oben stehen, um die beste Sicht auf den Start zu haben.

12 Stunden vorher. Zwischen Pastatellern breiten wir auf dem improvisierten Esstisch den Streckenplan aus, berechnen Pace und Durchgangszeiten, checken U-Bahn-Verbindungen, schätzen Laufwege ab und tüfteln am optimalen Plan, um unsere Läufer mehrfach zu sehen. Scotland Yard, quer durch Berlin. Wir wollen, dass die beiden Mr. X sich uns drei Mal zeigen: Bei km 13, bei 21 und bei 37. An der Siegessäule wollen wir aufs Anfeuern verzichten (die 600 m schaffen sie ja wohl alleine) und entscheiden uns deshalb egoistischerweise für den vermutlich atemberaubenden Blick von oben. Schließlich steht der Plan - er ist ambitioniert und eng getaktet, aber wäre ja auch unfair, wenn die Läufer als einzige etwas leisten müssen.


Guten Morgen Marathon! Der Wecker klingelt um 6 und ich schaufele so viel Frühstück in mich rein, wie es die knappe Zeit zulässt - wer weiß, wann heute das nächste Mal Gelegenheit zum Essen ist. Ich bewaffne mich mit der ausgeliehenen Kamera, trommele unser Support-Team zusammen, besuche die beiden Läufer, möchte sie nochmal drücken und viel Erfolg wünschen. Der erste ist äußerlich vollkommen ruhig, der zweite ein Nervenbündel. Ich wünsche mir für beide so sehr, dass sie ihre Ziele erreichen und verschwinde lieber schnell, bevor ich mich mit der Nervosität anstecke und alles noch schlimmer mache. Was ist das eigentlich für eine Zeitplanung, bei der die Fans vor den Läufern aus dem Haus müssen?


Achja, wir wollten ja rechtzeitig auf der Siegessäule sein. In 50 Metern Höhe auf den Tiergarten gucken. Den Großen Stern. Die Straße des 17. Juni. Das Brandenburger Tor, den Fernsehturm, Start und Ziel, Berlin. Sieht schon schön aus. Eine verdammt beeindruckende Kulisse ist das. Halb 9, noch eine Dreiviertelstunde bis zum Start. Ich schaue von oben zu, wie die Startblöcke sich in der Ferne füllen, wie unter uns die Absperrungen zur Seite geräumt werden, Menschen mit Funkgeräten Dinge besprechen, wie sich Polizei und Krankenwagen positionieren. Geschäftiges Treiben. Da kommt etwas Großes. So groß, dass es mir eine halbe Stunde vor dem Start eine beschissene Gänsehaut einjagt, obwohl ich nicht mal selbst laufe. Der Gedanke an die beiden, die da jetzt zwischen mehr als 41.000 Menschen im Startblock stehen, reicht völlig. Wochenlang habe ich die Vorbereitung miterlebt, vor wenigen Stunden haben wir zusammen Nudeln gekocht, eben haben sie noch verschlafen aus der Wäsche geguckt, jetzt ist es so weit. Wir sind nicht mehr dabei, können nichts mehr tun, bei nichts mehr helfen, nur zuschauen, da sein, mitfühlen. Gänsehaut. Kloß im Hals. Startschuss. Luftballons steigen auf, von hier oben aus der Entfernung sehen sie aus wie winzige weiße Punkte, könnten auch Fliegen sein.


Dann setzen sich die bunten Punkte in Bewegung und werden immer größer. Die Spitzengruppe setzt sich sofort ab. Die Masse dahinter rollt auf uns zu, teilt sich vor der Säule, strömt rechts und links vorbei und vereinigt sich wieder auf der anderen Seite. Was. Für. Ein. Bild. Ein Meer aus 41.000 bunten Ameisen umspült die Insel der Siegessäule und nimmt einfach kein Ende. Kein Foto kann festhalten, wie es sich anfühlt, das zu erleben.



Wir müssen runter. Ich möchte noch ein paar Bilder von der niedrigeren Aussichtsplattform machen und außerdem müssen wir langsam zur U-Bahn. Unsere beiden Läufer sind in verschiedenen Startblöcken und die Gefahr, den ersten bei km 13,5 zu verpassen, ist groß. Also beginnt die Jagd auf Mr. X. Wir sind zu viert, einer davon hat den Plan verinnerlicht, kennt Bahnlinien und Umsteigepunkte, wahrscheinlich verwaltet er auch die Black Tickets und sorgt dafür, dass alle die Spielfiguren auf die richtigen Felder setzen. Via Berlinmarathon-App erfahren wir, dass unser erster Läufer schon die 5-km-Marke passiert hat, während wir noch nicht mal ansatzweise in der Nähe von 13,5 sind. In der Bahn geht die Diskussion los: Den ersten Punkt ausfallen lassen, auf Nummer sicher gehen und direkt zu 21? Ja. Nein. Vielleicht doch besser. Nein, wir können es doch knapp schaffen. Wir fahren zur 13,5.


Wir stehen keine fünf Minuten am Streckenrand, als der erste vorbei kommt. Schild hochhalten, abklatschen, fotografieren. Gut sieht er aus. Frisch, kann noch lachen. Nicht sonderlich verwunderlich bei km 13. Endlich stehen wir mal mittendrin, schön in einer Kurve, haben gute Sicht und sehen die bunten Punkte jetzt mal aus der Nähe. Toll, wer so alles Marathon läuft. Jung, alt, sehr alt, klein, groß, dick, dünn, mit Dirndl, Schlafanzug oder Hasenohren - alles dabei. Unser zweiter Läufer lässt auch nicht lange auf sich warten, sieht ebenfalls super aus und ist bestens gelaunt. Wir schicken ihn auf die weitere Reise und benehmen uns dann wie Straßenverkäufer, die ihre Auslage ratzfatz einpacken müssen, weil die Polizei naht: Plakat zusammenrollen, Kamera verstauen, in die U-Bahn springen. Wir haben hier eine Mission zu erfüllen.


Während wir zur Halbmarathonmarke unterwegs sind, nähert sich die Elite dem Ziel. Per Whatsapp-Liveticker halten mich die Mädels zuhause in Sachen Zielsprint und Weltrekord ja oder nein auf dem Laufenden - und ich die komplette Bahn, indem ich laut vorlese, was die Fernsehzuschauer so in ihre Handys getippt haben. Was für ein Spaß!

Wir landen nicht bei km 21, sondern bei 20 und das ist ein Fehler, denn hier ist eine Verpflegungsstation und somit großes Gedränge. Unser Zeitfenster ist eng: Es ist eine echt knappe Kiste, wir marschieren im Stechschritt von der U-Bahn zur Strecke und sind zwar so gerade eben rechtzeitig da, aber sehen unsere Läufer nicht. Alle beide nicht. Verdammt! Dafür spricht mich eine maximal verwirrte Radfahrerin an, die schon eine Weile neben mir steht und über den nicht endenden Strom der Läufer rüber auf die andere Seite schielt: "Ich kann das so schwer einschätzen, aber ich komme da jetzt mit dem Rad eher nicht rüber, oder?" Äh, nein. Eher nicht.


Als uns klar wird, dass wir die beiden Läufer trotz vier Paar Augen wirklich nicht gesehen haben, wandern wir entlang der Strecke zum dritten und letzten vereinbarten Punkt: km 37. Dafür haben wir jetzt ausnahmsweise mehr als genug Zeit, denn während wir nur gemütlich drei Straßen weiter müssen, laufen die Hauptakteure mal eben 17 km. Endlich für uns kein Zeitdruck und endlich mal die Gelegenheit, ein paar mehr Eindrücke aufzusaugen. Wir kommen kaum voran, weil ich alle zwei Meter stehen bleiben und fotografieren muss. Dieses Schild, jenes Schild, die Leute, die dort rumturnen, die Kinder da mit den Seifenblasen, guck mal dort die Luftballons, Biene Maja, Einhörner, der Typ mit den Boxen, die da drübern mit dem beschrifteten Bettlaken, rotes Konfetti, goldenes Konfetti, Glitzer-Konfetti, Berlinmarathon, du bist so eine verdammte Party. Wenn ich hier niemanden anfeuern wollte und einfach nur den ganzen Tag Zeit hätte, würde ich Teile der Strecke entlang laufen und nur die Zuschauer fotografieren. Ihre leuchtenden Augen. Ihre klatschenden Hände. Ihre Plakate.


Die komplette Stadt liegt lahm. In unsere Überlegungen, wie wir zur nächsten U-Bahn-Station kommen, müssen wir immer mit einbeziehen, auf welcher Seite der Laufstrecke wir sind, wo wir rauskommen wollen, wo es eine Unterführung oder eine Brücke gibt. Autofahrer wären ziemlich aufgeschmissen und auch als Radfahrer sollte man ziemlich gut wissen, wo man lang möchte. Das betrifft übrigens nicht nur den Sonntag, sondern auch schon Samstag sind die Straßen gesperrt, weil der Inlinemarathon mit über 5.000 Skatern am Vortag stattfindet. Zwei Tage lang steht die Hauptstadt also ziemlich still - und was machen die Berliner? Feiern. Während bei der Radrenn-Premiere in Düsseldorf letzte Woche das Geschrei wegen gesperrter Straßen und abgeschleppter Autos sowohl in den Medien als auch den sozialen Netzwerken groß war, feiern die Berliner eine riesige Marathon-Party. Klar, das ist schon der 43. Berlinmarathon, es ist die schnellste Strecke der Welt, die Teilnehmerzahl ist mit über 41.000 Läufern gigantisch, aber: auch die Akzeptanz vor Ort ist gigantisch, der Support am Streckenrand großartig.




Da trommelt Jan seit 8 Jahren auf seinem Schlagzeug rum, Anwohner organisieren auf eigene Faust Getränkestände, am Wilden Eber steppt der Bär, bei km 37 feuert das Run Pack eine Konfettikanone nach der anderen ab. Stellenweise stehen die Zuschauer in Reihen zu viert oder fünft hintereinander, als kleiner Mensch sehe ich überhaupt nichts, kann nur die Kamera in die Höhe halten oder durch Beine hindurch fotografieren. Auf keinem einzigen Kilometer ist hier tote Hose. Berlin will jeden irgendwie ins Ziel peitschen und gibt sich dabei allergrößte Mühe - was hier in den Straßen los ist, macht einfach nur Spaß. Da liegt eine einmalige Energie in der Luft: Eine Mischung aus Euphorie, Entschlossenheit und Durchbeißen bei den Läufern und auf der anderen Seite Freude, Respekt und neidlose Anerkennung bei den Zuschauern. Der Berlinmarathon geht nicht spurlos an dir vorbei, es sei denn du bist aus Stein.




Bei km 37 erwarten wir unsere Läufer, die uns jetzt leider schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen haben. Dank der App wissen wir, dass es bei beiden gut läuft - bei einem sogar etwas zu gut, so dass wir ständig besorgt mit einem Einbruch rechnen, man weiß ja nie. Der erste kommt vorbei, sieht immer noch großartig aus, freut sich uns zu sehen, klatscht ab und ich bin sicher, wer nach 37 Kilometern noch so frisch aussieht, könnte schneller laufen. Von seinem Einbruch ahnen wir gar nichts, aber er kommt nur wenige Meter später. Blödes Timing, hätten wir mal lieber ein paar hundert Meter später an der Strecke gestanden. Der zweite Läufer sieht deutlich weniger frisch aus, freut sich noch mehr, uns zu sehen und ich bin immer noch gespannt, ob er sein Tempo so ins Ziel bringen kann. Er kann.




Wir gehen die letzten 5 km fast entlang der Strecke, stellen fest, dass bei km 38 mehr Wanderer als Läufer unterwegs sind, kürzen vom Potsdamer Platz zum Brandenburger Tor ab und lassen uns auf die andere Seite der Strecke schleusen. Was für ein fantastisches ausgeklügeltes System ist diese Zuschauer-Schleuse bitte! Und Entschuldigung, das ist zwar offensichtlich, aber ich muss es trotzdem sagen: Was bitte muss es für ein phänomenales Gefühl sein, durchs Brandenburger Tor auf die Zielgerade zu laufen?



Wir treffen uns alle am Punkt für die Familienzusammenführung, Buchstabe Y. Seit gestern witzeln wir darüber, dass wir dort wahrscheinlich zwischen den Yildirims und Yoshimuras die einzigen sechs Kinder sein werden, die offensichtlich weder eine Familie sind, noch einen Nachnamen mit Y haben - aber der Treffpunkt funktioniert trotzdem oder gerade deshalb hervorragend. Bitte nicht nachmachen, denkt euch gefälligst einen eigenen seltenen Buchstaben aus, wenn ihr wen nach dem Berlinmarathon finden wollt - X und Q sind ja schließlich auch noch übrig! Wir holen also bei Y zwei erschöpfte, aber glückliche Marathonis ab. Einer deutlich unter der Wunschzeit, der andere etwas drüber, aber dennoch nicht zu enttäuscht. Ich verschweige lieber, dass ich mir kurz ernste Sorgen gemacht habe, als die App sich während seiner letzten 2 km beharrlich ausgeschwiegen hat, während der andere, später gestartete, schon im Ziel war. Alles gut gegangen, nur eine kleine Wanderung, Zeitziel zwar verpasst, aber dennoch neue Bestzeit - wunderbar. Wir watscheln nach Hause, klettern die Treppen in die gefühlt eine Millionste Etage rauf, schütten auf das Finisher-Bier noch etwas Schampus (ohne Lachsfisch) und sind uns ziemlich einig: Dieser Berlinmarathon ist schon ne saugeile Geschichte.




Danke für die Wahnsinns-Show Ferdi und Christian! Glückwünsche, Respekt, gezogene Hüte - seid stolz auf euch, ihr Kämpfer! War schön, mit euch mitzufiebern. Danke an das beste Support-Team Anne, Steffi und Constantin - das hat großen Spaß gemacht mit euch. Danke fürs Kamera-Halten-Lassen Christian, war mir mal wieder eine Ehre und Freude. Mehr Bilder gibts hier zu sehen. Berlin, wir kommen wieder!