Montag, 10. Juli 2017

Raceday No. 39 - Rund um Bockum

Spontane Scheißhausidee der Woche: Warum eigentlich nicht mal ein Kriterium fahren?
Problem 1: Ich finde Runden echt ätzend. Bei Läufen mit mehr als zwei Runden komme ich schon ins Grübeln, ob ich mir das antun will. Andererseits radele ich ja auch auf der Bahn im Kreis - möglicherweise verhält sich der Rundenhass umgekehrt proportional zur Spaßigkeit der Aktivität.
Problem 2: Wahrscheinlich starten da nur superschnelle Raketen, die mir nach 100 Metern weg fahren, so dass ich keine Gruppe finde und die ganze Zeit alleine im Wind bin.
Problem 3: Rundkurs bedeutet Kurven. Kann ich nicht gut. Bei Ausfahrten komme ich fast immer schlechter um die Kurven als der Rest, fahre viel zu vorsichtig rein und muss danach viel zu sehr antreten. Das kostet unnötig viel Kraft.


Wie immer hilft es mir, gut zu überlegen, was genau mir Sorgen bereitet und dann das Herz in die Hand zu nehmen und voraus zu werfen. Situation analysieren und dann einfach mal machen. Runden? Musste halt durch. Abreißen lassen müssen? Ein Hoch auf den Rundkurs! Die Gruppe kommt nochmal vorbei, dann kannste dich wieder dran hängen. Kurven? Lieber vorsichtig angehen als einen Sturz riskieren. Nach den Kurven kurz hart antreten und dann in die nächste rein rollen. Der Plan steht. Nicht ganz unschuldig an meiner Zuversicht ist A-Lizenzfahrer Nico, der erst geduldig sämtliche doofen Fragen beantwortet und mich dann sehr genau darauf einstellt, was mich erwartet: "Dein Puls wird die ganze Zeit wahnsinnig hoch sein, aber das ist das Geile daran." Aha. Ob ich das so geil finde, werden wir ja sehen.



Im Nullkommanichts ist Annette von den Radflamingos angefixt. Dass sie ein Radsportproblem hat, durfte ich beim Grand Départ hautnah miterleben, also soll sie bloß nicht auf die Idee kommen, mir ihre Teilnahme am Kriterium in die Schuhe zu schieben. Laut Auskunft des Veranstalters am Vortag sind mit mir zwei Frauen gemeldet, mit Annette somit drei. Immerhin.

Wir radeln gemütlich - sofern der Gegenwind das zulässt - nach Krefeld Bockum und rollen eine Runde um die Strecke. Die ist etwa einen Kilometer lang und netterweise fast dreieckig. Es gibt also nicht vier Kurven, sondern nur drei. Dreieinhalb von mir aus, wobei die erste (halbe) die beste ist, weil man nämlich einfach geradeaus durchbrettern kann. Die erste richtige Kurve geht auch klar, dann kommt eine Gerade voller Gegenwind mit vielen Anwohnern, die in ihren Vorgärten grillen. Ziemlich hübsche Atmosphäre! Mit der zweiten Kurve kann ich mich genauso wenig anfreunden wie mit der Schlaglochpiste danach. Die dritte Kurve ist wieder einfacher und führt auf die Start-/Zielgerade. Das Rennen hieß früher Rund um den Kreuzberg, was glücklicherweise nur ein Straßenname und keine Erhebung ist. Streckencheck: done. Kann losgehen.


40 Runden sind zu fahren. Ich habe keine Ahnung, wie viele übrig bleiben, wenn man überrundet wird. Wann man aus dem Rennen genommen wird oder nicht. Was gibt's hier überhaupt für Regeln? In der Startaufstellung sortiere ich mich mit Annette hinten außen ein, auch die dritte Frau ist in unserer Nähe. Ich schaue mich um, wer sonst noch hier steht, auf einmal gehts los und ich finde irgendein Hinterrad. Nico behält Recht. Auf den ersten fünf Runden liegt der Schnitt irgendwo um die 36, ich eiere durch die Kurven, sprinte fast auf den Geraden und atme, sobald ich wieder einen Platz im Windschatten erwischt habe.


Dieses Tempo werde ich unter gar keinen Umständen halten können. Schon witzig, wie anders sich das im Vergleich zum "normalen" Rennen anfühlt, wo man sich einfach an irgendeine Gruppe ransaugt und mitziehen lässt. Den beiden Fahrern vor mir scheint es ähnlich zu gehen. Sie fallen aus der größeren Gruppe raus und sind nur noch zu zweit unterwegs. Wir schließen uns zusammen und wechseln uns mit der Führungsarbeit ab - sehr zur Freude der Zuschauer, die die Jungs anfeuern, das könnten sie ja wohl nicht auf sich sitzen lassen, wenn ich gerade vorne bin. Wäre mir auch lieber, die ganze Zeit an irgendeinem Hinterrad zu kleben, aber in einer 3er Gruppe ist es ja nur fair, wenn jeder mal ran muss.


Leider verlieren wir einen Fahrer ziemlich früh, so dass wir nur noch zu zweit sind. Wir wechseln alle zwei Runden, was viel zu wenig ist - aber Zeit zum Denken bleibt im Rennen nicht wirklich. Zwei Kilometer habe ich also Zeit, einfach mit zu rollen, zu atmen und mich so gut zu erholen, wie es eben geht. Was sich so langsam entwickelt, ist Vertrauen in die Kurven. Es dauert ganze 18 Runden, bis ich bemerke, dass ich eigentlich überhaupt nicht bremsen muss. Nach einer weiteren Runde stelle ich fest, dass ich in zwei von drei Kurven auch einfach weiter treten kann. Na guck an. Die beiden Kilometer vorn sind jedes Mal aufs Neue bitter, vor allem die Gerade mit Gegenwind geht an die Substanz. Es hilft immerhin ein klein wenig, dass ein kleiner Junge an der Kurve zuvor mit "Schneller! Wie ein Propeller!" anfeuert. Ich hätte gerne einen Propeller.


Bei Kilometer 20 überlege ich, wie ich möglichst elegant aussteigen kann. Leider fällt mir kein guter Grund ein. "Zu anstrengend" zählt nicht. Also weiter. Meinem Windschattenspender geht es genauso, wir verkürzen auf Abwechseln nach jeder Runde. Die Erleichterung, wenn er nach hinten geht, ist ihm jede Runde stärker anzumerken. Mir vermutlich auch. Mit einem Kopf voller Adrenalin und Beinen voller Laktat versuche ich dann doch, taktische Überlegungen anzustellen. Was, wenn der Kollege sich jetzt auch noch zurück fallen lässt? Vor uns ist weit und breit keine Gruppe in Sicht. Wenn es zu zweit schon so hart ist, will ich nicht wissen, wie es sich alleine anfühlt. Also besser leicht verlangsamen, damit er definitiv dran bleibt? Täte mir wahrscheinlich auch gut.


Die Entscheidung nimmt mir eine Gruppe ab, die uns überholt - allerdings nicht so wahnsinnig schnell wie die Spitzengruppe, die uns mit schöner Regelmäßigkeit überrundet. Was ist das hier? Ein Gruppetto aus Optimisten, die das Ganze zu schnell angegangen und jetzt geplatzt sind? Ist mir egal, das Tempo sieht okay aus und ich will da jetzt ran. Alex, mit dem ich aus Düsseldorf hier her gerollt bin, ist auch dabei. Das tut mir leid, weil ich ihn viel weiter vorne vermutet hätte, andererseits freue ich mich über ein bekanntes Hinterrad. Die Freude erlischt, als ich bemerke, dass das Tempo in und nach den Kurven doch ein etwas anderes ist als in unserer fluffigen Zweiergruppe eben. Ein paar Runden beiße ich mich durch, aber bei Kilometer 25 ist Schluss. Ich muss abreißen lassen.

Allein auf weiter Flur. Gar nicht mal so geil.
Gut: 25 Kilometer musste ich nicht allein fahren. Zwar auch oft genug im Wind, aber immerhin abwechselnd. Schlecht: Jetzt bin ich allein. Anscheinend bekommen die Zuschauer so langsam Mitleid, denn sie feuern noch lauter an als eben. Die Gerade voller Wind nutze ich zum Trinken. Jemand ruft "Prost!", ich proste ihm mit der Flasche zu, die Stimmung am Streckenrand ist prima. Ich würde mich gern zu einer der Grillparties setzen, ein bisschen über Radsport fachsimpeln, ein kühles Bier trinken ... Stattdessen fahre ich, so gut es noch geht, langsamer natürlich als eben, aber irgendwie noch vorwärts, immer weiter. Dann kommt die Ansage für alle überrundeten Fahrer: noch zwei Runden. Scheiße ja, es ist gleich geschafft! Oh Kacke, ist es dann schon vorbei? Schwupps, nur noch eine Runde. Ich verabschiede mich von den besten Zuschauern ("Prost!"), hopse ein letztes Mal über die Schlagloch-Buckelpiste, um die letzte Kurve, über die Zielgerade. 30 Kilometer. Im Schnitt 33,3 km/h. Schnaps!


Ich weiß nicht, ob die ersten schnellen Kilometer schlimmer waren oder die letzten fünf allein. Erst mal klar kommen, atmen. Annette finden, Cola trinken. Am liebsten in rauen Mengen. Geil, wir haben das geschafft! Ohne Angst, ohne Sturz, irgendwie doch halbwegs solide. Wir finden es so lange witzig, dass wir bei unserem ersten Kriterium gleich aufs Podium gefahren sind, bis wir feststellen: Es gibt zwar eine Siegerehrung, aber nur für die Männer. Frauenwertung? Fehlanzeige. Wir marschieren zur Startnummernausgabe und fragen mal doof nach, ab wie vielen Teilnehmerinnen es denn eine eigene Wertung gibt. Die Antwort lautet: Gar nicht. Schließlich starten wir ja alle im gleichen Rennen. Die Empanzipation habe uns das wohl eingebrockt, Männer und Frauen seien beim Radsportteam Bockum so gleichgestellt, dass die Frauen halt einfach nur gewinnen müssten, wenn sie denn mal aufs Treppchen wollten. So einfach ist das. Auf meinen Einwand, dass beim Laufen, Triathlon und übrigens auch bei anderen Radrennen auch alle im gleichen Rennen sind und es trotzdem zwei Wertungen gibt, heißt es: Nö. Das kennen wir so nicht aus dem Rennsport. Achso.

Siegerehrung für Frauen? In Bockum bleibt das Podium leer.
Ich wünsche mir genau deshalb, dass sich mehr Mädels auch zu kleineren Rennen trauen. Präsenz zeigen, an den Start gehen, für mehr Konkurrenz sorgen, Leistung bringen. Und dass Vereine und Veranstalter nicht so tun, als seien keine Frauen am Start. Dass sie es nicht vollkommen normal finden, dass nur die Männer geehrt werden. War ja schließlich schon immer so. Ich wünsche mir, dass sie im Jahr 2017 ankommen, dass sie das Ignorieren von geschlechterspezifischen Unterschieden nicht mit Gleichstellung verwechseln und dass sie stattdessen Anerkennung zeigen. Spannend übrigens der oben verlinkte Wikipedia-Eintrag: Die einzige olympische Sportart, in der Männer und Frauen gegeneinander antreten, sind sämtliche Reitdisziplinen. Selbst in Präzisionssportarten wie Schießen gibt es getrennte Wertungen, obwohl hier Männer nicht mal einen körperlichen Vorteil haben. Sollte doch also auch im Radsport auf dem Dorf möglich sein, ein zeitgemäßes Bild abzugeben. Wir kommen wieder und sind gespannt aufs nächste Jahr!

Das muss er sein, dieser komplett-im-Eimer-aber-glücklich-Zustand.
Danke für die Fotos an Christian Siedler (der beim nächsten Mal ruhig auch mal starten könnte ;-)
Hier geht es übrigens zu Annettes Bericht, den ich allein schon wegen ihrer legendären Bildunterschriften empfehlen kann.
Bei Coffee & Chainrings habe ich in der Fietsenmiezen-Ecke übrigens auch noch ein paar Sätze zum Thema verloren.