Montag, 3. Juli 2017

Grand Départ: Tour de France in Düsseldorf

Tour de France. In Düsseldorf. Grand Départ direkt vor meiner Haustür. Monatelange Vorfreude, die ersten Events als Vorboten der Tour - mein absolutes Highlight bisher der Streckentest der zweiten Etappe mit acht Profis, von denen sieben nun tatsächlich die Tour fahren. Mittlerweile: ein vor Pressemeldungen überquellendes E-Mail-Postfach und mehr Veranstaltungen, als in den Kalender passen. Alle Augen schauen nach Düsseldorf. Kritiker hinterfragen Kosten und Sinn. Zwei positive Dopingproben kurz vor der Tour sind das beschissenste Signal, das ich mir vorstellen kann. Senden wir ein anderes.


Muss das wirklich sein, Tour de France in Düsseldorf? Was für mich gerade sein muss: Der Versuch, diese wahnsinnige Woche mit Worten zu beschreiben. Denn neben allem offiziellen Geschissel sind es vor allem die Menschen, die die Tour zum Erlebnis machen. In den letzten Monaten habe ich durchs Radfahren unheimlich viele Leute kennengelernt: Mit den einen fahre ich jede Woche zusammen, mit anderen eher zu besonderen Anlässen. Einige sind mir zu schnell, trotzdem kennt man sich. Düsseldorf ist ein Dorf, das eine Radsportszene beherbergt, die ich als extrem vielfältig empfinde - für jeden ist was dabei, Rennrad, MTB, Fixed, gefühlt kennt trotz der Größe der Szene jeder jeden und bei den offenen Ausfahrten tauchen immer mehr Leute auf. Die Familie wächst. Und sie hat eingeladen. Zur Tour de France nach Düsseldorf.


Auf meinem Tourmaker-Ausweis steht "Presse-/Medienassistenz", dazu bekomme ich noch einen angebermäßigen Presseausweis. Meine Aufgabe: Stimmung einfangen, ein paar Bilder machen, Spaß haben. Wirklich! Und wie das so ist mit den Sachen, auf die man sich schon eine Ewigkeit lang freut, überrumpeln sie einen dann plötzlich. Zack, schon wieder Weihnachten. Zack, Grand Départ. Bims Bams. Plötzlich finden eine Milljausend Dinge gleichzeitig statt, alle klingen vielversprechend und aufregend, die Zeit rast und die Angst, nicht am richtigen Ort zu sein und etwas zu verpassen, verkompliziert die Planung. Ich würde mich am liebsten aufteilen.


Den ersten Hauch einer Ahnung, was für ein gigantischer Wanderzirkus die Tour ist, bekomme ich bei Diskussionen mit Händen und Füßen mit den französischen Ordnern rund ums Pressezentrum. Da geht's am Mittwoch gleich los mit der Eröffnung und der Kinderpressekonferenz. Marcel Kittel, André Greipel, Simon Geschke und Nikias Arndt beantworten geduldig und witzig die Fragen von rund 30 französischen und deutschen Kindern. Alles dabei von "Wie werde ich Radprofi?" über "Mit wem trainiert ihr gern zusammen?", "Was macht ihr in eurer Freizeit?" bis zu "Was esst ihr so bei der Tour?" Spannend zu sehen, wer PR-taugliche, druckreife Antworten gibt und wer sich schon mal ein wenig auf dem Stuhl windet und sich dann ein bisschen auf die Zunge beißt. André Greipel empfiehlt übrigens in Tee aufgelöste Gummibärchen, wenn das mal jemand ausprobiert hat, möge er bitte berichten!


Der neue heiße Scheiß: Social Rides. Bedeutet: Irgendwer lädt ein und alle kommen zum Radeln. Meistens organisiert von Fahrradläden, gerne in Kooperation mit Unternehmen, mit Testprodukten und Schnick und Schnack. Wer Rennräder, Schaltgruppen, Navis, Helme oder was auch immer ausprobieren will, hat die Qual der Wahl. Jeden Tag finden gefühlt drölf Rides statt und ich bin das Kind im Süßigkeitenladen. Am Mittwoch geht's für mich zur Schicken Mütze. Teile des Cannondale-Teams verstärken die heute mal an die 50 Fahrer starke Rookie-Runde und der spontane Geleitschutz der Polizei über sämtliche linksrheinischen roten Ampeln perfektioniert diese einmalige Sache. Im Anschluss wird gegrillt, zusammen gesessen, über Radsport gefachsimpelt. Das Herz hüpft ein bisschen. Und das schon am Mittwoch.


Donnerstag, Tag der Teampräsentation. Nachmittags gibt es eine TV-Probe zum Test der Abläufe, für die neun Statisten mit Fahrrädern gebraucht werden. Natürlich will ich mitmachen, wann hat man schon einmal die Gelegenheit, über die Bühne zu radeln? Während ich mir denke, dass ich da einfach lässig hoch fahre, kurz rumstehe, dann wieder runter rolle und deshalb mit der zur Stadtschlampe umfunktionierten Gabi anrücke, tauchen meine acht Teamkollegen fast alle in Trikots und mit vernünftigen Rennrädern auf. Okay. Peinlich zum zweiten: Rampe unterschätzen. Dicksten Gang drin lassen. Kurz vor Ende absteigen müssen. So viel zum Thema lässig auf die Bühne rollen! Beim zweiten Versuch auf dem kleinen Blatt geht dann alles gut. Schon schön da oben! Ich werd jetzt übrigens Radprofi.



Die Weltspitze ist zu Gast bei uns in Düsseldorf. Da trifft einer Nairo Quintana beim Bäcker, dem nächsten kommt Marcel Kittel auf der Radrunde entgegen. Als sei es das Normalste der Welt. Spätestens bei den Menschenmassen, die während der Teampräsentation ihre Helden feiern, dämmert mir so langsam, was die Tour bedeutet. Größtes Radrennen. Drittgrößtes Sportereignis der Welt. 3500 Kilometer in 21 Etappen. Wer hier mitfahren darf, wer von seinem Team nominiert wird, gehört zu den besten der Welt. Jeder träumt davon, ob aktueller oder Ex-Profi, und wer es schafft, dabei zu sein, ist ein Held, kann Radsportgeschichte schreiben. Da kann man schon mal etwas Gänsehaut kriegen.







Egal, wo man hingeht: Alle paar Meter stolpert man in irgendwen aus der Düsseldorfer Radsportgang hinein. Bei der Teampräsentation, auf dem Burgplatz, an den Kasematten, am Apolloplatz, natürlich am Fortunabüdchen. Aber auch der Rest der Stadt ist im Tourfieber. Während meine Social-Media-Teamkollegin Annette von den Radflamingos Peter Sagan vor dem Hotel auflauert, gurke ich am Freitagmorgen die Rennbahnstraße zur Bergwertung hoch. Ein Krankenwagen überholt mich, der Beifahrer lehnt sich aus dem Fenster und ruft: "So wird das aber nichts mit dem gelben Trikot!" Bis zur Rennbahn kriege ich das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Noch besser wirds nur auf dem Rückweg an einer Ampel, als eine ältere Dame - ebenfalls auf dem Rad - neben mir anhält und fragt, ob ich diese Tour de France auch mitfahre. Ich sage ihr, dass da leider nur Männer starten dürfen (was natürlich auch der einzige Grund ist, weshalb ich nicht teilnehme, ist ja klar). Sie: "Achso. Naja, Sie sehen so professionell aus." Alles klar.



Der restliche Freitag: Rapha Ride mit Canyon, Mieke Kröger und 70 anderen Leuten. Der helle Wahnsinn, dieses Mal ohne Polizei-Eskorte. Dann Mützenfest, Herzdings, viele tolle Menschen. Altstadt. Ich möchte nicht, dass die Tour startet, weil die letzten Tage so wunderbar waren, weil die Vorfreude so schön ist. Beim Start des Zeitfahrens am Samstag stehe ich vor der Countdown-Uhr am Burgplatz und bedauere, dass sie keine Sekunden anzeigt. Der Sprung auf Null ist so unspektakulär wie die Sportschau: "Achja der erste Fahrer ist schon auf der Strecke, wir berichten mal irgendein belangloses Zeug über unsere Moderatoren und dann geht's gleich auch richtig los." Achja danke!


Zeitfahren also. Im Regen. Ich wandere an der Strecke entlang und da ist sie wieder: Die Sorge, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Auf der Suche nach Fotomotiven achte ich nur aufs Drumherum und stelle nach einer Weile fest, dass ich noch keinen einzigen Radfahrer gesehen und nicht die leiseste Ahnung von den gefahrenen Zeiten oder einem Ranking habe. Also Stopp vor einer Leinwand. Die Fotos gelingen nicht so, wie ich möchte und daher kehre ich zur besten Ecke zurück, an der ich bisher vorbei gekommen bin, um endlich mal selbst etwas zu sehen: Der Cycling Club Düsseldorf belagert schon seit morgens um 10 die Fankurve in einer Brückenauffahrt. Perfekt!


Endlich bin ich nicht mehr alleine unterwegs, sondern stehe mit guten Leuten an einer guten Stelle. Annette gibt eine sagenhafte Ansagerin ab, man könnte sie ohne Probleme beim Boxen einsetzen. Zum Ansagen, nicht zum Boxen. Nehme ich an. Der letzte Teil der Startliste liest sich wie das Who-is-who des Radsports. Alle warten auf Tony Martin, den Weltmeister, den absoluten Favoriten. Bis er endlich kommt, feuern wir alle anderen Fahrer lautstark an und versuchen, die Belgier neben uns zu übertreffen - wird schwer. Sprechchöre, Klatschen, Geschrei, Jubel. Gänsehaut. Der absolute Wahnsinn. André Greipel ist dran. Die Gruppe von schräg gegenüber skandiert schon minutenlang "AN-DRE!". Wir antworten mit "GREI-PEL!" Es schaukelt sich hoch und explodiert, als er endlich vorbei kommt. Nicht weit dahinter, endlich, Tony Martin. Schon wieder läuft mir ein Schauer über den Rücken. Er könnte das packen heute, hier zuhause in Deutschland, beim Tourauftakt das Zeitfahren gewinnen und ins gelbe Trikot fahren. Wir wollen noch Marcel Kittel sehen ("MAR-CEL! KIT-TEL!"), schreien ihn durch die Kurve und sprinten dann zur nächsten Leinwand.



Fühlt sich an wie Elfmeterschießen beim WM-Finale. Eine Sekunde Vorsprung bei der Zwischenzeit für Tony Martin. Junge!! Hol dir das scheiß Ding! Mitten in unsere Euphorie platzt die Info, dass Alejandro Valverde nach seinem Sturz nicht weiter fahren kann, sondern die Tour für ihn schon am ersten Tag vorbei ist. Scheiße. So bitter. Mittlerweile ist Nairo Quintana auf der Strecke und wir fragen uns: Wie viel weiß er von Valverde? Ich hoffe, so wenig wie möglich. Man weiß es nicht. Tony Martin biegt auf die Zielgerade, die letzte Woche noch Triathlonstrecke war. Die letzten vier Kilometer führen nur noch flach geradeaus, keine Brücken mehr, keine Kurven. Wie weh das tun muss. Und es wird eng. Mit weit aufgerissenem Mund fliegt er über die letzten Kilometer, während wir uns vor der Leinwand abwechselnd die Seele aus dem Leib schreien und auf die Fingerkuppen beißen. Am Ende reicht es nicht.




Die Enttäuschung ist groß, aber gleichzeitig schaurig-schön. Scheiße, dass es mit dem Etappensieg zum Start nicht geklappt hat, aber was für ein wahnsinniges Gefühl, wie viele mitfiebern, wie die Emotionen hoch kochen. Das geht den 16 deutschen Fahrern offenbar genauso. Marcel Sieberg twittert: "Unglaublich!! Gestartet mit Gänsehaut und im Ziel mit tauben Ohren. Was für ein Auftakt. Danke an alle, die es möglich gemacht haben." Simon Geschke schreibt, er habe jede Sekunde auf dem Kurs genossen. Christian Knees berichtet von Gänsehaut während der gesamten Strecke. Wie schön ist das bitte, ein Teil davon sein zu dürfen?


Dass Deutschland Radsport kann, wird allerspätestens am Sonntag klar. Mit der zweiten Etappe geht es gefühlt so richtig los. Während das Einzelzeitfahren ein geschickter Zug zum Auftakt war, weil dabei auch nicht so radsportaffine Zuschauer mehrere Stunden lang die Gelegenheit zum Zuschauen hatten, fühlt sich die erste "richtige" Etappe noch mehr nach Tour an. Der neutralisierte Start gibt mir die Gelegenheit, das Peloton zunächst an zwei Stellen in der Stadt zu sehen.



Während die Strecke dann (wie schon beim Test im September, dem Race am Rhein) raus aus Düsseldorf und über Mettmann und Ratingen wieder zurück führt, radele ich über die Oberkasseler Brücke dorthin, wo ich das Stimmungsnest vermute: Leostraße. La Bici. Natürlich. Die Straße ist vollgestopft mit Fans, der Asphalt bemalt - genau so habe ich mir das vorgestellt!


Alle warten gespannt auf ihre Helden. Da sind so viele Gesichter, in die ich schaue und die alle sagen: Ja, das war eine gute Entscheidung, die Tour nach Deutschland, nach Düsseldorf zu holen. Wir empfangen euch mit offenen Armen. Wir haben Bock auf Radsport. Für die sowieso schon Radsportverrückten war diese Woche wie Geburtstag, Weihnachten, Heiraten, Kinderkriegen - alles zusammen, eine gigantische Party, für die man wahrscheinlich nur einmal im Leben ein Ticket bekommt. Ich bin aber sicher, dass es neben den Fahrrad-Ultras seit dem letztem Wochenende noch einige weitere gibt, die angefixt sind. Die auf Klappstühlen an der Strecke gesessen haben, Pavillons aufgebaut haben, Freunde auf den Balkon eingeladen haben. Achja, Wetter. Hatten wir auch, spielt aber echt keine Rolle. Wie schön das ist, wenn die Begeisterung einfach überschwappt.



So wehmütig ich bin, dass die Tour schon wieder weg ist, wo wir sie hier gerade so ins Herz geschlossen haben: Ich hoffe und wünsche mir, dass Düsseldorf viel davon mitnimmt. Danke an alle, die sich dafür eingesetzt haben, die das möglich gemacht haben. Diese Woche bleibt in Köpfen und Herzen. Danke!
Und: Für mich ist die Tour noch nicht ganz weg, denn ich reise ihr hinterher. Nächste Woche geht's los, mehr wird noch nicht verraten. Außer: Ich bräuchte da noch so ein gewisses T-Shirt ...

Fotos für diesen Artikel stammen von Christian Siedler, von Annette Feldmann und von mir.