Sonntag, 12. Juni 2016

Raceday No. 14 - Rhein Ruhr Halbmarathon Duisburg

Es ist Donnerstagabend und anstatt zu laufen, wie normalerweise donnerstags, flaniere ich über ein Stadtteilfest. Nachricht von Kati: "Willst du Sonntag Halbmarathon laufen? Kriegst den Startplatz geschenkt." Eigentlich will ich am Sonntag in Duisburg anfeuern. Meinen Vater, Steffi, Kati, Naomi. Ich hatte vor Monaten beschlossen, dass ich nicht mitlaufen möchte, weil ich mit dem Velothon und dem T3 genug Termine im Juni habe, weil ein Halbmarathon Vorbereitung erfordert, weil ich mir deshalb Stress machen würde, weil ich keinen Bock auf Druck habe. Und jetzt, drei Tage vorher, könnte ich starten. Einfach so. Öhm. Der Bauch sagt ja und die Vernunft fragt, ob ich eigentlich bescheuert bin.

Die besten!
Ein Bier später sage ich zu. Jetzt lauf ich also Halbmarathon. In drei Tagen. Das Gute: Ich hatte nicht wochenlang Zeit, mich verrückt zu machen. Das Schlechte: Ich habe natürlich auch nicht sonderlich viel trainiert.

Sonntagmorgen ist es bewölkt, nebelig und fast schon kühl. Als um 8 Uhr die Skater und Handbiker starten, würde ich am liebsten auch schon auf die Strecke gehen. An die Hitzeschlacht, die hier noch kommen soll, glaube ich bei dem aktuellen Wetter irgendwie noch nicht. Es ist echt angenehm. Noch.

Ich habe keinen Plan. Zuletzt bin ich im März bei der Winterlaufserie 2:13:32 gelaufen. Das gleiche müsste jetzt eigentlich auch drin sein, weil ich eigentlich gar nicht so irrsinnig viel weniger gelaufen bin als im Februar und März und glaube, zurzeit in ganz guter Form zu sein. Eventuell geht auch noch was mehr. Ich habe im Kopf eine vorsichtige 2:10 formuliert, aber habe ziemlichen Respekt vor der angesagten Hitze und der Spontaneität der ganzen Sache. Die Durchlaufzeiten für 10 und 15 km, die ich mir versuche zu merken, orientieren sich an der 2:13er-Hausnummer und sind somit etwas vorsichtig gesteckt. 1:03 für 10 km und 1:34:30 für 15. In der Theorie. Selbst für die 2:10er Endzeit wären die Zwischenzeiten für 10 und 15 km immer noch über einer bzw. eineinhalb Stunden. So weit so gut.

Kurz-vor-dem-Start-Selfie mit Steffi und Hagen
Tausend Dank für den Startplatz, Nadine! Weiterhin gute Genesung!
Dann gehts los. Es ist immer noch halbwegs kühl und bewölkt, Naomi und ich beschließen, erst mal zusammen zu laufen, bis es einem von uns zu langsam (=ihr) oder zu schnell (=mir) wird. Tatsächlich finden wir auf Anhieb ziemlich gut rein. Es läuft. Ich ahne, dass wir etwas zu schnell unterwegs sind, aber fühle mich gerade so wohl, dass ich daran nichts ändern möchte. Dann kommt nach 3 km die Sonne raus. Schlagartig. Nix mehr mit bewölkt. Heilige Scheiße! Wir machen das ungefähr Dümmste, was man tun kann und behalten das Tempo erst mal bei.

Zu Beginn führt die Strecke durchs Zentrum, über große Straßen, am Bahnhof vorbei. Länger geradeaus, mitten durch die Stadt. Das hier ist mein erster Stadt-Lauf, die beiden anderen Halbmarathons verliefen größenteils durch den Wald oder um Seen, meine 10er waren auch eher klein. Spontan freue ich mich einfach mal darüber, einer von diesen vielen bunten Punkten zu sein und hier zusammen über gesperrte Straßen zu laufen, während am Rand Leute stehen und klatschen. Ist ja schon ganz schön!


Schon bei der ersten Verpflegungsstation bei km 4 ist die Verlockung extrem groß, den Becher Wasser einfach über dem Kopf zu leeren. Aber gut, wir wollen mal nicht übertreiben, also lieber erst mal nur trinken. Wir laufen immer noch zusammen, können uns immer noch unterhalten und warten einfach mal, was da noch so kommt. Bei km 7 halte ich die Augen offen, weil hier meine liebste Duisburger Freundin Martinique am Streckenrand stehen will. Ich sehe sie nicht, aber bin so sehr mit Suchen beschäftigt, dass auf einmal schon wieder ein Kilometer rum ist. Und es wird nicht kühler. Keine Wolken in Sicht. Nur Sonne, Sonne, Sonne. Wieso genau hatte ich mich nochmal entschieden, die Sonnenbrille nicht anzuziehen und den Schwamm im Starterbeutel zu lassen? Achja, wegen den drei Wolken vor dem Start. Was für eine Bullenhitze das jetzt ist. Mittlerweile gibt es kein Zögern mehr, ich nehme an jedem Stand zwei Becher Wasser, trinke davon einen und gieße mir den zweiten über den Kopf und in den Nacken. Diese Abkühlung ist eine ganz wunderbare Erleichterung - für wenige Augenblicke. Ziemlich schnell sehne ich den nächsten Stand herbei, zum Glück gibt es zehn Stück auf der gesamten Strecke.

Da ist irgendwas klebriges an der Seite an meinem Shirt. Was zur Hölle? Ah toll, ein Gel ist aufgegangen und verbreitet sich gerade munter in der Hose und auf dem Shirt. Geil. Das wollte ich bei km 10 nehmen, aber bevor es bis dahin komplett auf mir verteilt ist, gibts das jetzt eben 2 km früher. Ich kippe ein Wasser hinterher und klebe nun überall. Im Gesicht, an der Hose, am T-Shirt, vor allem an den Händen. Ich habe Angst, Fäuste zu machen, weil sie sich eventuell nie mehr lösen lassen. Die Erlösung kommt mit dem nächsten Getränkestand, bei dem ich mir zwei Becher nur zum Händewaschen nehme. Man gönnt sich ja sonst nichts!


Dann ist da auch schon km 10. Wir sind unter einer Stunde - knapp, aber drunter. Bedeutet: Schon über 3 Minuten zu schnell für die relativ sichere 2:13er-Nummer. Ich bin nicht immer besonders gut darin, Entscheidungen zu treffen. Wir sind zu schnell. Das weiß ich. So richtig möchte ich aber nicht langsamer. Die Geschwindigkeit zu halten ist ein Risiko. Das weiß ich. Könnte doof enden. Wir sind erst bei km 10, nicht mal die Hälfte, es wäre noch genug Zeit, Tempo rauszunehmen und das Ganze hier gemütlicher zu Ende zu laufen. Und diese scheiß Hitze! Ich hadere ein bisschen und fange an zu jammern, erkläre Naomi meinen halb ausgegorenen Plan mit den Zeiten für 10 und 15 km, aber habe zu dem Zeitpunkt schon wieder vergessen, ob ich die eigentlich mit 2:10 oder 2:13 berechnet hatte. Ganz großes Kino! Weil uns nichts besseres einfällt, laufen wir dann einfach mal so weiter.

Warum wollte ich meine bisherigen Halbmarathons eigentlich lieber auf einsamen Strecken im Wald laufen? Weil ich die Natur so mag und Menschen so doof finde? Ist was dran, aber heute finde ich es zur Abwechslung mal sehr großartig, dass hier Zuschauer sind. Die Helfer an den Getränkeständen, die noch ein paar motivierende Worte übrig haben, die Leute am Straßenrand, die älteren Damen in Klappstühlen im Vorgarten, die Fähnchen schwenken und klatschen. All die Leute in diesen dörflichen Stadtteilen im Duisburger Süden, die Biertische und Campingmöbel nach draußen getragen haben, die ein Straßenfest aus der ganzen Sache machen, die nur dort sitzen, weil ein paar Tausend Leute hier vor ihrer Haustür vorbei laufen. Bei unerträglicher Hitze. Ich sage nie wieder irgendwas schlechtes über Duisburg, denn ich bin so unendlich dankbar über jede privat aufgebaute Gartendusche, jeden Wasserschlauch, jeden Eimer, die Kinder, die Brause und Salzstangen verteilen. Ich klatsche mit meinen nassen, klebrigen Händen sieben ungeduldig ausgestreckte Kinderhände in einer Reihe ab und lache mich dabei kaputt. Großartig!


Kurze Zeit später fängt neben der linken jetzt auch die rechte Seite an zu kleben. Merke: Taschen in der Tri-Hose sind nicht zum Transport von Gels geeignet - toll. Ich nehme also auch das zweite ein bisschen früher, als ich eigentlich wollte und kämpfe dieses Mal etwas länger mit der quabbelig süßen Pampe und dem Wasser zum Nachtrinken. Naomi dreht sich zu mir um, ich murmele irgendwas von "muss noch kurz essen" und brauche dann irgendwie doch länger als gedacht. Wir trennen uns. Ich halte Sichtkontakt, trabe ihr hinterher. km 15, ich bin immer noch zu schnell. Mehr als 5 Minuten sogar. So richtig rächt sich das immer noch nicht. Ich weiß, das kann noch ziemlich in die Hose gehen, aber ich wills trotzdem probieren. Was hab ich zu verlieren?

Bei km 16 möchte ich sterben. Oder die Schuhe ausziehen. Eigentlich nur die verdammten Socken. Was zur Hölle hat mich geritten, als ich heute morgen die Kompressionssocken angezogen habe? Ultralight, haha, aber gerade einfach nur ultrawarm. Viel zu warm. Ich nehme mir immer noch zwei Becher Wasser: einen für den Kopf und einen für die Beine. Die Füße kochen. Ich hatte noch nie so warme Füße und ich denke ernsthaft drüber nach, ob es eine Option ist, Socken und Schuhe auszuziehen und barfuß weiter zu laufen. Scheiße, das ist einfach viel zu heiß!

Nach 18 km kommt die Rechnung für das Gerenne bis hier hin. Wär ja auch zu schön gewesen. Ich habe Naomi aus den Augen verloren, meine Füße lösen sich gerade in ihre Bestandteile auf, ich habe Gänsehaut und der Kreislauf und der Kopf sind sich einig, dass wir jetzt mal aufhören zu laufen und ein paar Meter gehen. Vielleicht auch ein paar Meter mehr. Komischerweise finde ich das gar nicht so schlimm, denn ich habs mir ja fast gedacht. Hätte ja klappen können, hats aber nicht. Die letzten 3 km sind eine Mischung aus Traben und noch zwei Gehpausen, die letzte davon bei km 20. Ja, klar, es ist nicht mehr weit, ich könnte jetzt auch einfach mal die Zähne zusammenbeißen, aber ich will nicht mehr. Zuschauer lesen den Namen auf meiner Startnummer, die nicht mir gehört, und brüllen mich an: "NADIIIIIIINE! Zieh nochmal dran!" Ich ziehe hier an gar nix. Als Steffi mich auf einmal überholt, laufe ich ein paar Meter mit ihr zusammen. Am Straßenrand liegt ein Läufer, der von Sanitätern behandelt wird und eine Infusion bekommt. Dass ich dort auf gar keinen Fall landen will, entschuldigt meine Gehpausen vor mir selbst - ich bin außerdem ja selber schuld, hätte es ja langsamer angehen können.


Der Blick auf die Uhr verrät, dass ich immer noch auf Kurs unter 2:10 bin, und zwar deutlich. 2:05 wären knapp drin gewesen, wenn ich das Tempo auf den letzten 3 km gehalten hätte. Hätte. Inzwischen weiß ich, dass ich trotz Gehen auf Bestzeit-Kurs bin. Im Gegensatz zur Winterlaufserie ist das Ziel hier nicht im kleinen Leichtathletik-Stadion, sondern nebenan im MSV-Stadion. Zuletzt saß ich hier beim ersten Auswärtsspiel meines Lebens auf der Tribüne und habe mir angeguckt, wie die Fortuna gegen den späteren Absteiger Duisburg verloren hat. Jetzt drehe ich hier noch eine Runde und laufe die letzten Meter meines Spontan-Halbmarathons. Geil!


Socken aus! Schuhe aus! Barfuß über den Rasen laufen. Traumhaft! 
Es lief nicht perfekt, aber ich könnte kaum zufriedener sein: Ich hatte keine großen Ziele - für mich ging es hier um nichts, außer aus Spaß mitlaufen und gucken, was geht. Ich bin bewusst ein Risiko eingegangen und habe die Rechnung dafür bekommen. Damit kann ich besser leben, als wenn irgendwas schief geht, ohne dass ich selbst Schuld bin. Die Nettozeit kann sich trotz Wandern absolut sehen lassen: 2:08:02 - fünfeinhalb Minuten schneller als im März. So eine Zeit einfach mal halbwegs aus dem Training zu laufen, macht mich ziemlich zuversichtlich, irgendwann mal die 2 Stunden zu knacken. Vielleicht. Ich bin komplett nass im Ziel und glaube, dass ich niemals wieder trockne, aber die Hitze habe ich irgendwie ertragen und das macht mich einfach mal stolz. Strecke und Zuschauer waren sehr großartig, danke Duisburg!