Samstag, 27. August 2016

Raceday No. 19 - EuroEyes Cyclassics Hamburg 2016

Ich nehme zwei übertriefende Hände voll Rennradliebe, gieße sie in diesen Artikel und hoffe, sie fließt bei euch aus dem PC oder Handy wieder heraus. Ganz genau so und nicht anders ist das nämlich mit den Cyclassics. Was soll eigentlich noch kommen, nachdem mit dem RAD RACE Battle am Samstag der coolste Teil des Wochenendes schon abgehakt ist? Denkste.


Das Abholen der Startunterlagen geht super schnell - das Inspizieren des Startbeutels allerdings auch. Papiermüll, oh es gibt ein Rad zu gewinnen, Papiermüll, was zur Hölle soll ich mit After Shave??, Wasser (praktisch, aber... naja Wasser!), Riegel (taxofit - ungefähr das beste, was der Beutel zu bieten hat - nur dass es die gleichen auch bei der Nachzielverpflegung gibt), Trinkflasche (schönes Grün! Aber nicht an Bruno...), Teilnehmerinfos. Ganz praktisch, um die Gefahrenstellen auf der Strecke vorab schon mal zu checken (und schön blöd, wenn man dann während der Bodenwellen gerade nur eine Hand am Lenker hat, weil man ja ausgerechnet kurz vorher trinken musste). Mir ist durchaus klar, dass es auch für Sponsoren nicht gerade einfach ist, kostengünstig 20.000 Beutel zu füllen, aber hier ist echt noch Luft nach oben. Aber zum Glück nehme ich nicht wegen der Startbeutel teil, sondern weil ich Rennrad fahren will. Insgesamt bin ich nicht mehr so aufgeregt wie vor dem Velothon in Berlin, ich habe keine Angst. Ich fürchte allerdings, das Rennen könnte im Vergleich zum Battle etwas langweilig werden. Ich weiß ja jetzt, was auf mich zukommt. Diese Magie, etwas zum allerersten Mal zu machen, vermisse ich.


Am Vorabend veranstalten wir unsere eigene Pasta-Party. Mein unschlagbarer Plan, die Sauce aus dem Glas wenigstens mit frischem Gemüse zu bereichern, wird von der Meute nur unter Protest hingenommen. Nachdem die Nudeln (und das Grünzeug) allerdings ohne eine verzogene Miene verputzt sind, besprechen wir unsere Ziele und die Taktik fürs Rennen. Mein Plan sieht vor, schneller als in Berlin zu sein - einen Schnitt von 33,77 km/h gilt es zu schlagen, also wären 34 jetzt schön. Denk ich mir so in all meiner Naivität und mit nicht vorhandener Renn-Erfahrung. Allerdings kenne ich die Strecke nicht und weiß nicht, wie schlimm der Kösterberg wirklich ist, vor dem alle so eindringlich warnen. Wir sind zu dritt und wollen zwar zusammen starten, aber nicht unbedingt zusammen ins Ziel kommen. Ich habe keine Lust, Rücksicht auf irgendwen zu nehmen und möchte andersrum auch nicht, dass jemand auf mich warten muss - wobei ich mir insgeheim als zweites Ziel vorgenommen habe, vor den Jungs zu finishen. Die trauen mir allerdings noch nicht mal den 34er Schnitt zu ("Du kennst den Berg ja nicht! Den darf man echt nicht unterschätzen!"), was bei mir nicht unbedingt dazu beiträgt, den Plan nochmal zu überdenken. Im Gegenteil. Challenge? Accepted!


Start ist um minus 1000 Uhr. Für meinen Startblock zwar erst um 7:58, aber das bedeutet, man soll sich zwischen 7:18 und 7:48 dort einfinden. Puh. Weil ich ungern aus der allerletzten Reihe starten will und auch noch meinen Kleiderbeutel abgeben muss, fahre ich alleine schon mal etwas früher als der Rest los. Die Lust auf das Rennen ist schlagartig da, als ich in der Schanze die ersten anderen Rennradler entdecke, die sich unter Party-Zombies mischen und Richtung Start rollen. Wir sind alle aus dem gleichen Grund hier. Haben alle das gleiche Ziel. 20.000 Starter. Beim größten Radrennen Europas. Ich hab Bock!


Ich treffe die Jungs im Startblock wieder. Ganz schön voll hier, aber trotzdem total entspannt. Endlich dürfen wir losrollen - aus Block G bis zur Startlinie sind das ein paar hundert Meter. Wie beim Velothon ist auch hier der Start gemächlich - wir hoppeln über die Matte für die Zeitmessung, keiner ballert sofort los. Mir geht das alles viel zu langsam, aber die Muskeln sind kalt, erst mal einrollen, Geduld. Scheiß drauf, wenn ich eins nicht habe, ist es Geduld! Ich will nicht warten. Nach zwei Kilometern habe ich wirklich keine Lust mehr auf Bummeln und ziehe das Tempo wenigstens mal auf 30 km/h an. Schon besser. Fühlt sich aber immer noch langsam an.


Wir radeln an "unserer" U-Bahn-Station vorbei. Es geht leicht bergauf, es ist mir egal, ich spüre gar nichts. Eine erste kleinere Abfahrt, ich bin mittlerweile gut drin und ziehe das Tempo auch in der Ebene auf irgendwas zwischen 36 und 40. Es läuft. Gefühlt sind die meisten hier routinierter als in Berlin, nur wenige eiern in der Mitte rum, links überholen klappt wunderbar. Vielleicht bin ich auch selbst einfach entspannter. Ziemlich schnell ist die Umgebung ziemlich ländlich. Es geht raus aus Hamburg und bei Schenefeld auf die L103. Eine Landstraße mit Mittelleitplanke - fühlt sich an wie eine Autobahn und ich liebe sie sofort. Wie toll ist der Asphalt hier denn bitte? Ich habe Glück und finde einen Zug, dessen Geschwindigkeit perfekt passt. Das scheint die Mannschaft irgendeines Firmenteams zu sein und einige andere Fahrer haben sich bereits dran gehängt. Ich jetzt auch. Den Firmennamen kann ich nicht entziffern, aber während der nächsten Kilometer habe ich viel Zeit zu studieren, dass sich die Radler vor mir im normalen Leben mit Industriereinigung, Gerüstbau und all solchen Sachen beschäftigen.


Die Gruppe ist fantastisch. Insgesamt bestimmt um die 15, 20 Leute, mal fahren wir Einerreihe, meistens Zweierreihe. Ich kann gar nicht anders, der Windschatten saugt mich einfach mit und wir fliegen über die Autobahn Landstraße. Ich erkläre diesen Teil schon bei km 15 zu meinem Lieblingsstück der Strecke. Ich liebe die Geschwindigkeit, die Gruppe und bin einfach nur froh, dass es so verdammt gut läuft. Ohne Absprachen wird durchgewechselt, das Tempo ist hoch, aber gleichmäßig. Besser gehts nicht! Ich möchte ewig so weiter machen.


Dann kommt eine Kurve und meine neue Lieblingslandstraße ist vorbei. Schade. Insgesamt gerade mal 21 km gefahren. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo wir sind, aber die Dörfer werden immer kleiner. Raus aufs Land. Idyllisch. Und einsam. Die Gruppe ist noch immer zusammen, mittlerweile blicke ich die meiste Zeit auf einen Rücken mit der Aufschrift "Spätzle-Power". Mhm, Nudeln. Generell sieht man in so einem Radrennen ziemlich viele Ärsche, Trikotaufschriften und wenig Landschaft, aber ich bemühe mich, alles um mich herum aufzusaugen. Unser Zug funktioniert einfach viel zu gut, als dass ich mich ausklinken wollte. Ich schiele auf den Tacho. Ungefähr bei km 39 kommt der Berg. Der hat übrigens eine extra Bergwertung ("Unterschätz auf keinen Fall den Berg! Da hab ich schon Leute hoch schieben sehen!"). Mensch Hamburg, was hast du mit uns vor?

In Wedel sehen wir zum ersten Mal die Elbe (und die Bodenwellen) und dann geht es schon mal leicht bergauf - eine gute Einstimmung auf das, was noch kommt. Und eine gute Gelegenheit, die Beine ein klein wenig zu schonen. Zumindest, wenn man die Vernunft gewinnen lässt. Aber schlau ist langweilig. Und pure Vernunft darf niemals siegen. Wir knallen den Anstieg auf dem großen Blatt mit einem 30er Schnitt hoch. Puh. Kann man machen. Die Gruppe bleibt bis zum Kösterberg zusammen, dann reißen ein paar aus und die meisten fallen zurück. Ich bin irgendwo alleine in der Mitte und mache mein eigenes Ding. Erste Zeitmessung für die Bergwertung. Na dann wollen wir mal!


Das hier soll der so großartig angepriesene Berg sein? Das alpine Schreckgespenst im Hamburger Westen? Mittlerweile habe ich gelernt, dass es gar nicht mal DEN Kösterberg gibt, sondern nur Grotiusweg und Kösterbergstraße. Pfffft. Ich sehe es gar nicht ein, dafür aufs kleine Blatt zu schalten. Wiegetritt olé. Das steilste Stück hat wohl an die 6 % Steigung, aber es ist kurz. Der ganze Berg ist kurz. Haben die mich alle verarscht? Auf einmal ist es schon wieder flach. Hä? Das Stück Kopfsteinpflaster ist nicht schön, aber geht vorbei. Nach einer Kurve gehts nochmal rauf und ich erwarte, dass die Oberschenkel dann spätestens jetzt richtig leiden müssen. Der absolute Kracher bleibt allerdings aus und nach gut 500 Metern ist der Spaß vorbei. Ok Hamburg! Du meinst es gut mit uns. Direkt um die Ecke ist übrigens der Waseberg, den die Profis nachmittags gleich mehrfach bezwingen dürfen - mit bis zu 15 % Steigung nochmal ne deutlich andere Hausnummer. Ich bin trotzdem froh, dass das Schlimmste überhaupt kein bisschen schlimm war und habe für die letzen 15 km nur noch eines im Sinn: Tempo.


Es läuft einfach zu gut, um nicht schneller zu fahren. Trifft sich auch gut, dass es erst mal 5 km bergab geht. Genau bei km 46 spült die Strecke uns an die Elbe. Ach, Hamburg! Wie schön du bist. Noch 10 km. Elbchaussee. Wir kennen uns noch vom Hamburg-Triathlon vor ein paar Wochen. Ich liebe die Strecke. Sie ist ehrlich. Geht nur geradeaus. Und rauf. Ich spüre keine Anstrengung mehr, bin völlig besessen davon, ins Ziel zu rasen, möglichst schnell, auch wenn es gerade so schön ist - die alte Zwickmühle. Eine richtige Gruppe findet sich nicht, aber ein paar einzelne, die ähnlich denken. Das Ding nach Hause fahren. Und auf einmal fliegst du mit 37 Sachen bergauf, als gäbe es kein Morgen.

Noch 5 km bis zum Ziel. Es geht über die Königstraße, dann die Reeperbahn. 2 km. Kein Außen mehr. Kein Halten mehr. Noch drei Kurven. Vorbei am Rathausmarkt. Auf die Mönckebergstraße. Hier bin ich gestern schon beim Battle hochgesprintet. Jetzt sind noch mehr Zuschauer da und machen aus der Einkaufsstraße einen beschissenen, lauten Zielkanal. Gemütlich über die Ziellinie rollen kommt überhaupt nicht in die Tüte, von daher: all out. Ich will mir hinterher nicht vorwerfen können, nicht alles gegeben zu haben. Noch Luft nach oben gehabt zu haben.


Keine Vorwürfe. Nur Euphorie! Liebes Hamburg, das hat sehr viel Spaß gemacht!

Ich habe keinen Sturz gesehen, das Wetter war untypisch spitzenmäßig und es gibt einfach echt mal absolut nichts, das besser hätte laufen können. Einziger Kritikpunkt vor allem im Vergleich zum Velothon: Die Sehenswürdigkeiten am Streckenrand sind doch eher spärlich gesät. Die Dörfer rund um Hamburg sind zwar schön, aber nichts besonderes. Deshalb muss ich im nächsten Jahr definitiv auf der 100-km-Strecke an den Start gehen und mich die Köhlbrandbrücke hoch quälen. Ich freu mich drauf!

Meine Cyclassics in Zahlen:
56,7 km
1:36:17
Schnitt 35,33 km/h

Platz gesamt: 939 von 5063
Platz bei den Frauen: 62 von 1025
Platz in der Altersklasse: 19 von 165
Bergwertung: 24 von 1025

Ich gebe normalerweise nicht viel auf die Platzierungen. Aber wenn ich mir überlege, dass ich vor zwei Jahren nicht mal ein Rennrad besessen habe und die Cyclassics mein zweites Rennen waren, dann bin ich da grade einfach mal fucking stolz darauf. "Ist ja bei den Frauen auch nicht so schwer, vorne dabei zu sein" - alles schon gehört. Fahrt erst mal selber schneller.


Danke, dass ich das alles mitmachen durfte, für die Möglichkeit, für das Markenbotschafter-Dasein. Diese Radrenn-Sache zu machen, war eine der besten Entscheidungen des Jahres. Warum? Weil das einfach mit nichts vergleichbar ist. Die gesperrten Straßen, die großartigen Abschnitte der Strecke, die Gruppen, die sich gegenseitig ziehen und blind verstehen, die verdammte Geschwindigkeit. Die Beine, die kurbeln, kurbeln, kurbeln. Das Herz, das spätestens beim Blick auf den Tacho einen Sprung macht. Aus eigener Kraft lange schnell fahren ist offenbar ein simples Rezept, um mich sehr glücklich zu machen. Wir sind in Hamburg, ich möchte Enno Bunger zitieren: "Es gibt Dinge, die begreift man nur, wenn man sie nicht erklärt." Das hier ist so ein Ding.

Wer jetzt Lust bekommen hat und auch mal Rennluft schnuppern will: Eine sehr gute Gelegenheit gibts am 18. September 2016 zuhause in Düsseldorf: Das alltours Race am Rhein auf einem Teil der Tour de France Strecke 2017. Ich bin dabei. Wer nicht radeln will: Helfer werden auch noch gesucht, klickt mal rein.

Fotocredits: Alle bis auf das erste Medaillenfoto: Christian Siedler.