Montag, 20. August 2018

Triathlon, Marathon, Ultra? - Gar nichts muss ich!

Mein Leben hat keine Bucket List. Marathon laufen? Einmal im Leben einen Ironman finishen? Steht und stand nie auf irgendeiner Liste. Marathon bin ich trotzdem gelaufen, inzwischen zweimal. Und wenn ich mich aktuell in meinem Umfeld online und offline so umschaue, könnte mich ziemlich leicht der Gedanke beschleichen, dass ich damit eigentlich ziemlich öde bin. Mehr ein Jogger als ein Läufer. Inzwischen scheint es nämlich dazu zu gehören, Ultra zu laufen. Mindestens 50 Kilometer dürfen es schon sein, gerne mehr. Entweder flach auf einer winzigen Runde im Kreis oder am besten mit möglichst vielen Höhenmetern. Achso, jeder Waldlauf ist übrigens auch ein Trailrun, aber bitte weit und bergig. Was, du läufst nur große Wettkämpfe auf der Straße? Total Mainstream.


Das ist die Läufer-Bubble. Meine normalen Freunde differenzieren nicht zwischen bekloppt und #allebekloppt. Vor einer Weile habe ich mit einer sehr guten Freundin, einer Gelegenheitsjoggerin, gesprochen. Sie habe das Gefühl, jeder sei auf einmal Triathlet. Als gäbe es einen gesellschaftlichen Druck, einmal an einem Triathlon teilzunehmen. Die vielen Jedermänner bei den Veranstaltungen, egal ob Marathon oder Triathlon, suggerierten den Zuschauern, das könne jeder. Und wenn es schon jeder kann, wenn also selbst diejenigen, die in ihrem ganzen Leben noch nie Sport gemacht haben, sich auf einmal vom Sprint zur Olympischen Distanz vorarbeiten und so weiter - dann bekäme man als eigentlich gar nicht so unsportlicher Zuschauer schon fast ein schlechtes Gewissen.

Ist das jetzt gut, weil jemand denkt: "Oh stark, wenn der das kann, dann kann ich das auch!" oder ist es schlecht, wenn man einen Druck verspürt, an Events teilzunehmen und den Haken auf der Bucket List zu machen? Kann man eigentlich mit einem Marathon noch irgendwen beeindrucken? Muss es nicht eher ein Ultra sein oder eben eine Triathlon-Langdistanz - oder ist die nicht inzwischen auch fast schon Standard und nur noch etwas Besonderes, wenn die Bedingungen so richtig menschenfeindlich sind?

Wem willst du's eigentlich zeigen?

Bleiben wir mal beim Thema Eindruck schinden. Mir schwirren dazu viele Gedanken durch den Kopf. Einer geht so: Jede sportliche Leistung kann für jemanden persönlich herausragend sein. Besonders, unvorstellbar, beeindruckend. Das können die ersten fünf Kilometer am Stück nach jahrelanger Sport-Abstinenz sein, das kann der erste Triathlon sein, der erste (Halb-)Marathon, 70 oder 100 Kilometer, eine Langdistanz, drei Langdistanzen hintereinander, ein vor dem Besenwagen gefinishtes Rennen, ein mehrwöchiges Radrennen quer über einen kompletten Kontinent. Ich habe Respekt vor allen diesen Leistungen und ich erlebe das gleiche aus meinem sportlichen Umfeld. Sportler kannst du also relativ leicht beeindrucken, weil sie - wenn sie nicht bei schwierigen Downhills mehrfach auf den Kopf gefallen sind - wissen, wie sich das anfühlt, was du geleistet hast. Wenn sie es nicht aus eigener Erfahrung wissen, können sie es erahnen. Sie wissen, wie unerreichbar weit weg ein Ziel erscheinen kann. Sie wissen, wie sich durchhalten anfühlt. Die Nicht-Sportler beeindruckst du noch leichter - denn wer keine 10 Kilometer laufen kann, findet 42 genauso unvorstellbar wie 50. 80 hören sich dann natürlich nochmal krasser an, sind aber genauso weit weg im #allebekloppt-Universum.

Der zweite Gedanke geht so: Warum zur Hölle wollen wir eigentlich irgendwen beeindrucken und vor allem wen? Wenn es bei den Sportlern und den Nicht-Sportlern mit der Anerkennung eigentlich so einfach ist, wer bleibt übrig?
Du. Dein eigenes Ego. Und das ist erfahrungsgemäß in den seltensten Fällen zufrieden. Schau dich doch nur mal um! So viele sind schneller als du, legen weitere Distanzen zurück, nehmen an mehr Rennen teil, haben mehr Spaß dabei, erleben die cooleren Sachen, wuppen den Spagat aus Arbeit, Familie, Freunde, Haushalt und Sport so viel müheloser.


Ich habe mir an die eigene Nase gefasst und überlegt, aus welchen Motiven heraus ich welche sportliche Herausforderung eigentlich angegangen bin. Der erste 5-Kilometer-Lauf? Ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Hindernislauf. Der erste Volkstriathlon? Eine Schnapsidee aus Neugierde, ob ich das schaffen kann. Aber dann, die ersten zehn Kilometer, die erste Olympische Distanz, der erste Halbmarathon. Ich glaube nicht, dass all das nur aus mir selbst entstanden ist, dass ich das nur für mich gewollt habe. Vielmehr spielt eine Selbstverständlichkeit da rein, dass es eben so weiter geht. Wenn du fünf Kilometer laufen kannst, dann auch zehn. Wenn du einen Sprint schaffst, warum nicht auch eine Olympische Distanz? Wenn die Olympische klappt, beginnst du automatisch, über die Mitteldistanz nachzudenken. Weil es der nächste Schritt ist. Wenn du 42 Kilometer laufen kannst, wieso dann nicht auch 50? Wenn du 50 ...

Zwei Herzen

Natürlich spielt unser Umfeld eine entscheidende Rolle. Bin ich der einzige in meinem Bekanntenkreis, der Sport treibt und an Wettkämpfen teilnimmt? Oder habe ich lauter Freunde um mich herum, die gemeinsam mit mir Pläne schmieden, die sich ebenfalls steigern oder schon drei Schritte weiter sind? An dieser Stelle schlagen zwei Herzen in meiner Brust: Einerseits finde ich es toll, sich anstecken zu lassen. Unbedarft an Dinge heranzugehen, die auf einmal erreichbar erscheinen, weil sie in einem bestimmten Umfeld normal wirken - für dich selbst aber vielleicht etwas ganz großes sind, was du dich allein nicht getraut hättest. Es ist toll, zusammen Schnapsideen auszuhecken, und ich liebe es, andere mit Ideen anzufixen. Deshalb schreibe ich diesen Blog. Ich freue mich wie Bolle, wenn mir wieder jemand schreibt: Danke, du hast mich motiviert, ich kaufe mir jetzt ein Rennrad. Oder ich fahre mein erstes Rennen. Starte beim Triathlon.

Begeisterung überschwappen zu lassen und andere anzustecken, ist etwas Großartiges. Es ist so schön, neue Dinge auszuprobieren, auf die man alleine nie gekommen wäre. Aber kann das auch schaden? Erzeugen die super-sportlichen Freunde unbewusst einen Druck, selbst auch immer mehr erreichen zu wollen? Steigern wir uns zu schnell in sportliche Herausforderungen hinein? Das kann mit Sicherheit passieren. Aber es liegt an uns, ob wir das Wettrennen um höher, schneller, weiter mitmachen.


Ich bin ziemlich sicher, dass ich ohne meine Freunde keine Mitteldistanz angegangen wäre. Zu viert zusammen etwas so großes zum ersten Mal machen - das ist eine ziemlich schöne einmalige Sache. Ich bin froh, dabei gewesen zu sein, auch und gerade weil ich das alleine nicht gemacht hätte. Trotzdem denke ich, dass es wichtig ist, sich nicht immer nur von der Euphorie leiten zu lassen und so andauernd in Dinge hinein zu rutschen, für die man (noch) nicht bereit ist, die aber alle machen. Von denen man glaubt, man müsste sie auch machen.

Du musst gar nichts. Nur Apfelmus.

Wenn ich eines in den letzten vier Jahren Ausdauer-Sport gelernt habe, dann ist es, auf meinen Körper zu hören. Ruhetage einzuhalten. Mich zu erholen. Nicht unendlich weiter zu machen, "weil es so viel Spaß macht" und dann ja nicht schaden kann. Oder weil es alle machen. Zum Glück bewahrt mich meine Faulheit vor Übertraining. Wenn ich mir irgendwann trotzdem zutraue, eine absurde Anzahl von Kilometern und Höhenmetern durch die Gegend zu rennen oder mit dem Rad mehrere Länder zu durchqueren, dann würde ich mir keine Sorgen darum machen, dass es zu viel sein könnte. Weil ich immer im Hinterkopf habe, wie außergewöhnlich derartige Vorhaben sind, wie wenig normal. Wir müssen nämlich gar nichts. Niemand muss Marathon laufen, oder Ultra oder auch nur einen Kilometer. Wir müssen gar nichts. Aber wir könnten.

Hier auf dem Blog gibt es keine Kommentarfunktion mehr. Schreib mir deine Gedanken zum Thema gerne unter den Beitrag auf Facebook, Instagram oder Twitter. Bist du auch zwiegespalten, was das Anstecken unter Freunden, Bekannten und der eigenen Timeline angeht? Glaubst du, es gibt einen gewissen Druck, bestimmte Dinge einmal im Leben zu erleben? 

Fotos: Christian Siedler

Mittwoch, 8. August 2018

Raceday No. 60 - Rad am Ring 24h-Rennen

Erste Runde 

Der Staffelstab ist eine Trinkflasche mit Transponder, die man nicht öffnen darf und aus der man auch nicht trinken kann. Unser Startfahrer Ansgar übergibt mir die wichtigste Flasche und wünscht mir viel Spaß. Er kennt die Strecke in und auswendig und ist gespannt, wie ich die Nordschleife finden werde. Die grüne Hölle. Eine 90 Jahre alte Rennstrecke, die bereits 1976 als zu gefährlich für die Formel 1 eingestuft wurde. Na wunderbar. Insgesamt hat die Runde mit der Grand Prix Strecke 26 Kilometer, etwa 580 Höhenmeter und 93 Kurven. Das einzige, was ich vorher weiß: Es gibt steile Abfahrten und steile Anstiege. In der Fuchsröhre knacken einige Radfahrer die 100 km/h, während es an der Hohen Acht mit bis zu 17 Prozent bergauf geht. Es besteht also die Gefahr, dass ich hier rückwärts wieder runter rolle.

Mehr weiß ich nicht, als ich zum ersten Mal von der zwar harmlosen, aber auch schon irgendwie coolen Grand Prix Strecke auf die Nordschleife abbiege. Diese Asphaltkilometer, die wir schon vor zehn Jahren bei Rock am Ring als heiligen Boden bezeichnet haben. An deren Rand man campen konnte, wenn man keinen Bock auf Kuhwiese hatte. Heute ist weniger Rock'n'Roll. Die Strecke verpasst mir ganz von allein einen Rausch. Um die 20 Meter Breite, rechts und links die rot-weißen Begrenzungen, dahinter Wiese. Zum allerersten Mal bergab, in die Kurven. Ich verliebe mich auf Anhieb. Der Mythos Nordschleife liegt einfach in der Luft, ich habe ihn unter meinen Reifen und mein Herz hüpft wie wahnsinnig, weil ich hier fahren darf. Hier mit dem Rad runter zu düsen, die Kurven zu nehmen, dabei immer im Hinterkopf, dass es gleich noch länger runter geht, noch krasser wird, und dann einige Kilometer lang steil wieder rauf. Das Glücksgefühl, hier Rennrad zu fahren, vermischt mit dem Respekt vor der Strecke - ein bittersüßer Cocktail, der mich bis zur Hälfte der Runde trägt.


Im Vorbeifahren lese ich die historischen Namen der Streckenabschnitte. Schwedenkreuz, Adenauer Forst, Metzgesfeld, Exmühle, Bergwerk. Abfahrten wechseln sich mit kurzen Anstiegen ab. Bei einigen gelangt man mit genug Schwung bis nach oben, bei anderen bleibt man einfach stehen, wenn man nicht rechtzeitig runter schaltet. Wo war jetzt eigentlich die Fuchsröhre? Inzwischen geht es schon seit einer Weile bergauf und wird immer steiler. Und warum heißt es eigentlich ausgerechnet Klostertal, wenn die Strecke mit acht, neun, zehn Prozent bergauf führt?

Es zieht sich. Ewig. Ich glaube, mein Garmin ist kaputt, denn es zeigt permanent 11,8 km/h an und nichts anderes mehr. Vielleicht sind auch nur die Beine kaputt. Endlich wieder ein halbwegs flaches Stück vor dem Caracciola-Karussell: "Flache" vier bis fünf Prozent, klasse. Nach der Steilkurve (wie gut, dass ich schon mal auf der Bahn war!) kann ich kurz durchatmen, danach geht es in das letzte Stück rauf zur Hohen Acht. Ich warte darauf, dass die 17 Prozent mich umhauen, dass ich rückwärts den Berg wieder runter rutsche, einfach umkippe oder absteigen muss. Nichts davon passiert. Ich sehe schon von unten einen Zielbogen und hoffe, dass er den höchsten Punkt markiert. Allerdings traue ich mich nicht, bei den Nebenmännern zu fragen. Die Gefahr, dass ich sofort absteige und mich auf die Wiese setze, falls mir irgendwer verrät, dass es danach noch weiter rauf geht, ist zu groß.


Oben ist zum Glück wirklich oben. Das Schild "Ab jetzt Kette rechts!" lässt mich hoffen, dass es jetzt wieder angenehmer wird. Wippermann, Brünnchen, Pflanzgarten, Galgenkopf. Rauf und runter, aber im Vergleich  zu den vier Kilometern von der Exmühle bis zur Hohen Acht alles kein Problem. Die Döttinger Höhe zieht sich noch ein bisschen, Windschatten wäre bei diesem langen Stück geradeaus praktisch. Bisher habe ich mich von anderen Radfahrern aus Angst vor Stürzen möglichst ferngehalten, aber hier wäre ein hübscher Zug schon ziemlich fein. Ich merke, wie ich die restlichen Kilometer rückwärts zähle. Was bin ich froh, erst einmal nur eine Runde fahren zu müssen! Nach mir sind wieder die anderen drei dran.

Endlich ist die Zielgerade in Sicht. Danach noch schnell die drei, vier Kurven bis zu unserem Camp und Übergabe der Staffel-Flasche. Ich fühle mich ein kleines bisschen besonders, weil ich jetzt im gleichen Club wie Ansgar bin und mitreden kann, während das Debüt von Christian und Jan noch aussteht. Wir schicken den dritten Fahrer auf die Strecke. Wie wars? "Geil! Aber auch hart! Total krass! Viel Spaß!" Ansgar schiebt "Genieß es!" hinterher, was irgendwie der beste Tipp ist. Die Nordschleife fordert viel, aber sie gibt dir auch alles.

1:02 Stunden habe ich für meine Runde gebraucht. Ich hatte keine Vorstellung, wie schlimm oder nicht schlimm die Höhenmeter sein würden und hatte eine grobe Stunde angepeilt - kommt hin. Abgesehen davon habe ich den großartigen Plan ausgeheckt, die erste Runde erst einmal langsam anzugehen, um die Strecke kennenzulernen. Steigern kann man sich ja hinterher immer noch. Denkste. Die erste Runde wird auch 24 Stunden später noch meine schnellste sein.

Zweite Runde 

Die anderen drei sind alle etwas schneller unterwegs, so dass ich meine Pause dahinschwinden sehe. Obwohl ich gefühlt eben erst zurück gekommen bin, sitze ich nach knapp drei Stunden schon wieder auf dem Rad. Die Vorfreude hält bis zur ersten dezenten Welle. Scheiße! Wieso merke ich schon in der zweiten Runde meine Beine? Das kann ja noch lustig werden. In den Abfahrten bin ich immernoch vorsichtig, traue mir aber mehr zu als in der ersten Runde. Die größte Angst: Bei Rechtskurven, die ich nicht innen fahren will, zu weit nach links zu geraten und von einem schnelleren Fahrer von hinten abgeräumt zu werden. Ich blicke mich also lieber 27x um, bevor ich in eine Kurve fahre.

Inzwischen weiß ich, wo die Fuchsröhre ist und freue mich über eine lange Abfahrt, bei der man die Kurven fast ignorieren kann. Trotzdem traue ich mich nicht von Anfang an, die Bremse komplett zu lösen. Erst als ich alles einsehen kann, mache ich die Bremse auf und werde immer schneller. In der ersten Runde war die Straße hier noch vom Regen nass, mittlerweile ist zum Glück alles abgetrocknet. Ich fliege. Ich kann währenddessen nicht nach unten gucken, sondern halte den Lenker fest, will nicht denken, aber schwanke zwischen "ist das geil" und "ach du scheiße". Erst im nächsten Anstieg wage ich den Blick aufs Garmin: bergauf noch 77 km/h. Strava verrät mir später, dass die Höchstgeschwindigkeit bei 81,7 km/h lag. Ich glaube, wer hier völlig ohne Angst runter fährt, tickt nicht ganz sauber. Meine Mischung aus Respekt und Euphorie bringt mich irgendwie sicher durch die Runde.

Zumindest bis zur Kurve Wehrseifen, als ich jemanden im Kiesbett liegen sehe. Zwei Fahrer stehen etwas ratlos daneben, es ist noch kein Krankenwagen da. Mich irritiert, dass die beiden so weit weg stehen und sich keiner direkt um den Verletzten kümmert, deshalb halte ich an. Frage, ob sie noch Hilfe brauchen und erkenne im gleichen Moment: ja. Ein Rettungswagen ist bereits informiert, ich kann eigentlich gar kein Blut sehen, aber jetzt kann ich es doch und kümmere mich um den Fahrer am Boden. Ich denke nicht, sondern funktioniere nur. Versuche, ihn zu beruhigen, überhaupt erst einmal zu ihm durch zu dringen, mit ihm zu sprechen. Als nach einer gefühlten Ewigkeit die Notärztin eintrifft, weiß ich, dass es für mich nichts mehr zu tun gibt. Ich fahre weiter, auch wenn ich nichts lieber will als zurück am Camp sein.

Die Hälfte der Runde liegt noch vor mir, damit also auch die Anstiege. Ich will nicht mehr. Aber da ich auch nicht hier bleiben kann, fahre ich weiter. Irgendwie. Mein Kopf ist leer. Meine Beine auch. Mein Ehrgeiz liegt irgendwo mit einem kaputten Rennrad im Grünstreifen. Ich schiebe die letzten Meter der Hohen Acht und es ist mir nicht mal peinlich. Ich rolle zurück zu den anderen und denke, ich muss irgendwie die Fassung bewahren, damit meine Ablösung nicht mit einem schlechten Gefühl auf die Strecke geht. Als er weg ist, kommt alles raus. Bis eben habe ich funktioniert, aber jetzt nicht mehr.

Dritte Runde 

Ich brauche eine Pause. Körperlich und mental. Ich gehe duschen, versuche auf andere Gedanken zu kommen. Mir ist schlecht, aber ich esse, weil irgendwie Energie rein muss. Tortellini mit Tomatensauce. Als die Zeit verstreicht, wird mir klar, dass ich die nächste Runde nicht mehr im Hellen fahren werde. Ich würde am liebsten gar nicht mehr fahren, aber ich ahne: Wenn ich jetzt kneife und mich nicht wieder aufs Rennrad setze, wars das mit mir und der Nordschleife. Ich blicke der neu gewonnenen Angst vor Kurven, Abfahrten und Stürzen also lieber jetzt gleich ins Auge als irgendwann später.

Als ich gegen 22 Uhr starte, ist die Sonne bereits untergegangen, aber es ist noch nicht stockdunkel. Christian sagt, ich soll die Lichter genießen. Das mache ich. Die Grand Prix Strecke leuchtet so wunderbar. Viele Teams haben als Erkennungszeichen Lichterketten, leuchtende Gartenzwerge, Weihnachtsdeko oder gleich Leuchtreklame installiert. Ich schaffe es tatsächlich, die Atmosphäre aufzusaugen. Beim Abbiegen auf die Nordschleife nehme ich mir vor, es so langsam wie nötig anzugehen. Mir so viel Zeit zu nehmen, wie ich brauche.


Die Dämmerung weicht der Dunkelheit. Ich bin froh, dass ich im Winter schon öfters im Dunkeln Rennrad gefahren bin. Dass ich dieses Gefühl schon kenne, wenn die Sicht schlechter wird und alle anderen Sinne sich schärfen. Anspannung und Konzentration sind auf Maximum. Alles ist plötzlich unheimlich laut: der Wind in den Ohren, der Freilauf. Ich rausche bergab. Die Ankunft im nächsten Anstieg ist ein Auftauchen aus dem rauschenden Ozean. Eine völlig andere Welt. Eine totenstille Welt, die nur daraus besteht, dass viele rote Lichter aufgereiht bergauf kriechen. Vereinzelt höre ich Atemgeräusche oder mal eine ratternde Schaltung. Niemand spricht. Wir sind viele, eine ganze Armee aus roten Punkten, wir haben alle das gleiche Ziel, aber niemand ist zu Smalltalk aufgelegt.

Das langsamere Tempo tut mir gut. Ich beschließe, dass ich die Hohe Acht dieses Mal hoch fahre, egal was kommt. Hinterher stelle ich fest, dass ich damit nicht schneller war als in der Runde zuvor zu Fuß, aber immerhin stolz, es mir selbst noch einmal bewiesen zu haben. Meine Kopfschmerzen, die ich schon seit der zweiten Runde mit mir rumschleppe, nehmen zu, so dass ich die anderen zurück im Camp um eine längere Pause bitte. Es ist nach 23 Uhr und ich kann mir nicht vorstellen, um 2 Uhr schon wieder auf dem Rad zu sitzen. Ich brauche eine Pause für den Kopf und eine Mütze Schlaf.

Vierte Runde 

Als um 4.15 Uhr der Wecker klingelt, frage ich mich, was die Scheiße soll und was ich hier eigentlich mache. Es ist kühl draußen und schön warm in meinem Schlafsack. Warum zur Hölle sollte ich jetzt das Zelt verlassen? Wer ist eigentlich auf diese bescheuerte Idee gekommen, ein 24h-Rennen zu veranstalten und Leute mitten in der Nacht radfahren zu lassen?

Es ist 5 Uhr und ich sitze auf dem Rennrad. Zum ersten Mal mit langem Trikot, weil 13° in den Abfahrten dann doch ein bisschen frisch sind. Die Sinnfrage verlässt mich zum Glück gleich mit dem Losfahren: Ich mache das, weil ich es möchte. Weil ich das Radfahren liebe, weil diese Strecke der Hammer ist, weil wir ein Team sind und weil wir das irgendwie zu Ende bringen. Und weil jeder eben beisteuert, was er kann. Ein Gedanke hält mich besonders bei Laune: Wenn ich von der Runde zurückkehre, wird es hell sein.


Nur noch einmal in die dunklen Abfahrten. Ins rauschende Meer, um in der Stille zwischen den roten Punkten wieder aufzutauchen. Endlich dämmert es. Die Sonne schafft es noch nicht so richtig durch die Wolken, aber der Himmel färbt sich wunderbar rot. Jemand vor mir hält an, um ein Foto zu machen. Ich speichere alles in meinem Kopf, will den Moment nicht vergessen. Die Berge würde ich gern vergessen. Sie werden mit jeder Runde schwerer. Meine Beine sind inzwischen Blei. Ich kann bergauf keine annähernd sinnvolle Trittfrequenz mehr fahren. Und trotzdem überhole ich in diesem Schneckentempo noch den einen oder anderen (der vermutlich die drölfzigste Runde als Einzelfahrer dreht). Einmal ruft mir von hinten jemand "Starke Leistung!" hinterher und ich weiß nicht, ob es ironisch oder ernst gemeint ist. Ich krieche weiter nach oben, habe längst kein Zeitziel mehr für irgendeine meiner Runden. Ankommen zählt. Nur irgendwie gut durchkommen.

Ende

Ich lege mir zurecht, wie ich den anderen freudestrahlend zurufe: "Ich habe euch den Tag mitgebracht!" Blöd nur, dass keiner am Camp ist, als ich zurückkomme. Einer duscht, zwei schlafen. Hallo hier, Teamdings?! Weil in der Nacht wegen einer ausgefallenen Lampe einmal getauscht wurde, weiß wohl keiner mehr, wer jetzt dran ist. Schließlich erklärt sich einer bereit, muss aber erst noch frühstücken. Und ein bisschen wach werden. Das Gute daran: Sollten wir nächstes Jahr noch einmal starten, haben wir bei den Wechseln auf jeden Fall Luft nach oben gelassen. Ich kündige schon einmal vorsichtig an, dass meine Beine extrem durch sind und ich nicht weiß, ob eine fünfte Runde drin ist. Dann stelle ich den Wecker auf weitere drei Stunden und krabbele zurück ins Zelt. 

Dieses Mal stehe ich vor dem Wecker auf und hadere mit mir. Ich würde gern noch eine Runde fahren. Ich möchte es später nicht bereuen, sie ausgelassen zu haben. Aber ich weiß, dass meine Beine echt am Ende sind und dass es für uns um nichts geht. Vier Runden klingt verdammt wenig. 100 Kilometer und über 2200 Höhenmeter hören sich schon etwas anders an. Ich bereue nichts, weil ich weiß, dass ich nicht zum letzten Mal hier war.


Die letzten 24 Stunden waren wir wie in einem Tunnel verschwunden. Kaum genug Zeit, all die vielen tollen radfahrenden Menschen zu treffen, die sich hier tummeln. So viel zu tun mit essen, schlafen, fahren, mitfiebern, warten, den Pavillon bei Windböen festhalten und und und. Dass diese wunderbare anstrengende Zeit gleich vorbei ist, wird mir klar, als wir zur Zielgerade fahren, um auf unsere Teamkameraden zu warten und gemeinsam über die Ziellinie zu rollen. Rechts und links der Strecke stehen Rennradfahrer und Mountainbiker bunt durcheinander gemischt. 8er, 4er, 2er-Teams, Fans von Einzelfahrern, alle. Jeder, der irgendwas mit einem der 24h-Rennen zu tun hat, wartet hier auf seinen Fahrer, sein Team. Endlich sind wir komplett und Ansgar fragt, ob wie über die Ziellienie hahnern. Nein! Kein Sturz auf den letzten Metern! Nebeneinander fahren muss reichen.

Im Team mit dem Motto "Erlebnis vor Ergebnis" haben wir 20 Runden zusammengekriegt. Macht 520 Kilometer, 11.000 Höhenmeter und vier ziemlich müde, aber glückliche Fahrer. Der beste Einzelfahrer hat übrigens 27 Runden geschafft, das beste 4er Team 32. Der helle Wahnsinn. Also, es ist so: So hart das war, ich habe mein Herz an den Ring verloren. Spätestens jetzt. Ich komme wieder! Und ich möchte am liebsten dazu beitragen, dass mehr Frauenteams auf der Strecke sind. Bei den 8er-Teams waren es nur vier, bei 4er-Teams genau 20, wenn ich richtig in die Ergebnisliste geschaut habe. Und davon sind 17 Teams mehr als 20 Runden gefahren - das ist ne Ansage! Auch die Rundenzeiten sind verdammt flott. Ich geh dann noch ein bisschen trainieren ...


So, was noch?

Einschlafen geht nach diesem Wochenende übrigens ungefähr so: Ins Bett legen, Gute Nacht sagen, Augen zumachen, schlafen. Bäm!

Christian hat dieses Mal übrigens nicht nur großartige Fotos, sondern auch ein hübsches Video gemacht. Das gibt's hier zu sehen. Bis zum Ende gucken. Viel Spaß!


Der Veranstalter von Rad am Ring hat uns den Startplatz zu vergünstigten Konditionen zur Verfügung gestellt. Es gab in keiner Form Einflussnahme auf die Berichterstattung. Vielen Dank, dass wir dabei sein durften und bis zum nächsten Mal!