Freitag, 10. Juli 2020

Auf ne Pizza nach Hannover - 280 Kilometer mit dem Rennrad

2020 lässt mir nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Fehlen von Veranstaltungen mit dem Fehlen von Herausforderungen gleichsetzen und dem Schweinehund nachgeben - oder einfach halbwegs vorzeigbar fit bleiben und für spontane Schnapsideen wenigstens eine minimale Grundlage mitbringen. Ich teile meine Entscheidung nach Sportarten auf: Beim Laufen ist es ersteres, beim Radfahren letzteres.

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Ferdi, auch bekannt als Koootsch der Raketenstaffel und ich und Hannover.
Der Jahrestag meiner ersten und letzten Mitteldistanz spült mir Bilder und Erinnerungen in die Foto-App: Wasserstadt Limmer Triathlon 2017 in Hannover; zu viert waren wir aus Düsseldorf angereist, um die Mission Mitteldistanz um allerersten Mal zu vollbringen und "Mission Hannover" heißt noch immer der gemeinsame Gruppenchat. Damals vor drei Jahren war es für uns alle das erste Mal auf der Mitteldistanz, es war emotional, es war zauberhaft und im Rückblick schauen wir wahrscheinlich alle etwas verklärt auf diese eigentlich doch recht schnöde Stadt. Für uns war der Triathlon toll, das airbnb im abbruchreifen Hochhaus toll, die Gegend toll und die Pizza toll. Und das Tiramisu. Beim Betrachten der Fotos poppt dann aus der Laune heraus die spontane Frage auf:


Zwei Wochen später ist eine Übernachtungsgelegenheit gefunden (danke, Lisa und David!), die Zugtickets für die Rückfahrt sind gebucht, die Taschen gepackt, die Route geplant und um kurz vor 5 sitzen wir freitagsmorgens auf den Rädern. Los geht's von Düsseldorf nach Hannover, gut 280 Kilometer für eine Pizza und mindestens 27 Tiramisu.

Wir sind beide alles andere als Frühaufsteher, aber die grobe Kalkulation der Zeitplanung und das Schließen der Pizzeria um 22 Uhr lassen uns keine Wahl. Falls ich aus meiner 333-Kilometer-Tour an die Nordsee eines gelernt habe, dann ist es das: Wenn du den ganzen Tag Sport machen willst, ist vorher nicht schlafen das Blödeste, was du machen kannst. Ich schlafe also immerhin vier Stunden statt damals nur eine und verbringe den Rest der Zeit des Im-Bett-Liegens mit Sorgen machen: Schaffen wir das zu zweit? Wird der Leistungsunterschied zu groß sein? Überlebe ich die Höhenmeter? Ist die kurzfristig und daher etwas lieblos geplante Route Mist? Macht mein Hintern das mit? Ist der neue Sattel besser oder schlechter als der alte und war es eine dämliche Idee, vor wenigen Tagen noch an der Einstellung herum zu schrauben? Kommen wir rechtzeitig an, bevor die Pizzeria schließt? Wird die Pizza noch so lecker sein wie damals nach dem Triathlon?


Erste Worte beim Treffen um 4:44 Uhr: "Was für eine Scheiß-Idee!" Aber da die Rückfahrt bereits gebucht ist und wir uns jetzt schon mal aus dem Bett geschält haben, geht's wohl auch los. Von Düsseldorf führt uns die Strecke über Ratingen nach Essen, wo die ersten Höhenmeter auf uns warten. Bis es so weit ist, haben wir Langschläfer noch genug Gelegenheit, die völlig leeren Straßen und den Sonnenaufgang zu bestaunen. Beides allein schon wunderschön, aber in Kombination mit unserem großen Vorhaben, heute einfach mal bis Hannover zu radeln, ziemlich herrlich. Besser könnte der Start kaum laufen, und auch der erste Anstieg ist vertieft ins Gespräch schneller vorbei als vorher befürchtet. Cleverer Schachzug, den sich hoffentlich alle zukünftigen Mitfahrer merken: Maren ablenken, wenn's bergauf geht.

Da die Frage nach den Taschen immer wieder auftaucht: Bei nur einer Übernachtung brauchen wir nicht viel. Verpflegung für unterwegs, Wechselsachen für die Nacht und die Rückfahrt im Zug passen in die Oberrohrtasche von Birzman* sowie den Backloader von Topeak*. 
Nach Essen kommt Bochum, ungefähr so weit kenne ich mich auch noch aus, aber dann beginnt für mich Neuland. Castrop-Rauxel, Hamm, Beckum - bisher nur in den Staunachrichten schon mal gehört. Wir kratzen gerade an Dortmund vorbei, als mein Hinterreifen sich ein übertrieben großes Metallstück einfängt. Ich hatte schon etwa 400 Jahre keinen Platten mehr, so dass ich das eirige Gefühl erst nicht richtig einordnen kann, bis die Luft dann raus ist und kein Zweifel mehr besteht. Kacke. Der Fehler ist zum Glück schnell gefunden und der Schlauch gewechselt, aber genug Luft will nicht rein. Sie entweicht nicht sofort aus dem neuen Schlauch, aber so richtig rein will sie auch nicht. Ich meine, es könnte reichen, also rollen wir weiter. Der Reifen sieht das anders, es reicht nicht, wir müssen erneut halten und nachpumpen. Ich möchte nicht, dass unsere Tour nach 70 Kilometern schon zu Ende ist, wie traurig wäre das denn? Von Düsseldorf nach Dortmund und den Rest mit dem Zug? Na klasse. Wir haben das leicht krumme Ventil im Verdacht und würden am liebsten die Miniluftpumpe gegen eine schöne Standluftpumpe tauschen - aber woher nehmen morgens vor Öffnung sämtlicher Fahrradläden am Stadtrand von Dortmund? Die Lösung heißt schließlich Autowerkstatt, und zwar gleich zwei verschiedene. Die erste verkauft mir nach ausgiebiger Suche einen Adapter, um das französische Ventil auch an der Tanke aufpumpen zu können und die zweite Werkstatt hilft dann mit Geraderücken des Ventils und Druckluft nach. Endlich! Das Hin und Her kostet uns etwa eine Stunde und hatte meine Hoffnung auf eine Ankunft vor Ladenschluss der Pizzeria kurz geschmälert. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass Ventil und Schlauch auch für die nächsten 200 Kilometer durchhalten. Den Ventil-Adapter* kann man beim nächsten Mal auch gleich von Anfang an einpacken.


Nach einem guten Drittel der Strecke haben wir bereits 500 Höhenmeter auf der Uhr - was so ziemlich genau 500 mehr sind als ich normalerweise fahre. Gut: Immerhin sind sie gleichmäßig über die ganze Strecke verteilt. Schlecht: Es kommen noch 1000.

In Stromberg müssen wir am Ortseingangsschild selbstverständlich für ein Foto anhalten. Als nächstes fahren wir durch Rheda Wiedenbrück und Gütersloh, gefühlt schon absurd weit weg von zuhause. Nur wegen der vielen Berichterstattung in der letzten Zeit kann ich ungefähr einordnen, wo wir sind. Wiedenbrück ist überraschend schön und in Gütersloh nerven die wobbelig gepflasterten Radwege so sehr, dass wir doppelt froh sind, als wir die Stadt endlich hinter uns lassen. Bielefeld liegt als nächstes auf der Route. Ich sorge mich um potentiell schlimme Anstiege im Teutoburger Wald, bekomme dank höhenmetervermeidender Routenplanung jedoch nur nervigen Stadtverkehr. Nicht viel besser.


Mittlerweile sind wir 170 Kilometer gefahren und es wird heiß. Die Stopps häufen sich. Zeit für die erste Tankstellen-Cola. In meiner Fantasie hört NRW kurz hinter Bielefeld auf, allerdings muss ich in der Realität verdammt lange auf die niedersächsische Landesgrenze warten. NRW hält allerdings noch Späße wie Bad Salzuflen (wer denkt sich denn so einen Namen aus?) und Vlotho bereit. Irgendwo zwischen hier und dort, die schmale Straße schlängelt sich gerade zwischen sehr grünen Hügeln entlang, treffen wir auf eine Gruppe Jugendliche auf Hollandrädern. Bierkiste hinten drauf, Musikboxen vorne und locker flockig zu "99 Luftballons" die Hügel rauf. So kann man auch ne gute Zeit haben. Fahrrad, Getränke, Musik, ab zum See, fertig. Wieso wollten wir nochmal unbedingt nach Hannover?


Porta Westfalica heißt wohl nicht ohne Grund so, aber Hauptsache ich muss erst 220 Kilometer bis hier hin radeln, um das festzustellen. Hier hört NRW also auf. Nach dem Ortsteil mit dem klangvollen Namen Eisbergen folgt der einzige halbwegs ernst zu nehmende Anstieg des Tages über das Wesergebirge. Klingt schlimmer, als es ist, denn es geht nie sonderlich hoch, aber immerhin mal drei Kilometer am Stück bergauf. Kenn ich nicht von zuhause, und kenn ich erst recht nicht mit 220 Kilometern und 1000 Höhenmetern in den Beinen. Auch hier funktioniert die Taktik Ablenkung wieder hervorragend, denn ich hatte zuvor bei der Routenplanung entdeckt, dass jemand ausgerechnet hier ein "Bänkle zum Verweilen" als Point of Interest markiert hat. Was kann also schief gehen?

Tatsächlich hält Eisbergen entgegen der Ankündigung weit und breit kein Bänkle zum Verweilen bereit. Einige Kilometer später finden wir glücklicherweise doch noch eines. Mit Schatten!
Es gibt Bergwerke und Schneisen aus kalter Luft, so dass die Abfahrt sich anfühlt wie ein Bad im Baggersee. Bevor noch jemand zu frieren anfangen kann, geht es glücklicherweise wieder bergauf. Der untere Rücken meldet sich so langsam und mit ihm die Erkenntnis, dass mir bisher nicht klar war, wie sehr man den Rücken besonders beim bergauf Radeln gebrauchen kann. Hoch und runter geht's bis Stadthagen "An der Bergkette" entlang. Die Straße heißt tatsächlich so und präsentiert sich dementsprechend idyllisch. Links der Blick auf die eher platte Landschaft (und den Kaliberg), rechts die "Bergkette", mittendurch schlängelt sich die Straße auf und ab. Wirklich schön!

Nicht mehr so schön ist es bei Kilometer 260 kurz hinter Bad Nenndorf, als ich ankündige, dass ich eine Pause brauche, und zwar jetzt sofort. Der Kreislauf schwächelt, die Hitze tut ihr übriges und ich muss einfach kurz im Schatten sitzen. Ich habe das Gefühl, dass es eher mit dem Zug oder Bus als auf dem Rad weitergeht, aber eine Cola und ein paar Cracker ändern meine Meinung. Es geht besser. Wir einigen uns darauf, langsam weiter zu rollen und auf den Radwegen zu bleiben. Sieben Kilometer später sind wir endlich in Stemmen, dem schönsten Dorf im Landkreis 1996, niemanden interessiert das - außer uns, denn wir befinden uns ab jetzt auf der Triathlon-Radstrecke und hatten auch vor drei Jahren schon unseren Spaß mit dieser stolz präsentierten Auszeichnung.


Der letzte Rest unserer Route führt uns weiter über die Triathlon-Strecke und ist heute nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Weißt du noch, genau hier saßen immer diese Zuschauer, dort war der Fotograf, dort die Verpflegung, und ach diese Abfahrt!


Endlich erreichen wir ein Ortsschild von Hannover, selbstverständlich halten wir für ein Foto an. Für die Reservierung in der Pizzeria sind wir sowieso schon etwas spät dran, jetzt kommt es auf die Minute auch nicht mehr an. Hannover! Angekommen! Ob sich darüber schon mal jemand so doll gefreut hat?

Die letzten zwei Kilometer durch die Stadt schaffen wir jetzt auch noch. Auf dem Weg liegt der Stichkanal Linden, Triathlon-Schwimmstrecke. Besser könnte das alles hier gar nicht zusammenpassen. Es ist schön, schon mal hier gewesen zu sein und noch schöner ist es, mit dem Fahrrad aus eigener Kraft zurück zu kehren. Heute morgen um 5 waren wir noch zuhause in Düsseldorf und jetzt sind wir hier. Wir sind wirklich da! Pizza gibt's auch noch und der Magen macht glücklicherweise auch wieder mit - nur fürs Tiramisu reicht's bei mir dann leider nicht mehr. Müssen wir wohl nochmal wieder kommen - vielleicht in drei Jahren, wenn die Foto-App mich an diese Tour erinnert?

Die Frage kam auch schon häufiger: Die fantastische Pizza gibt's bei Francesca & Fratelli. 
Das Wichtigste: Wir haben es vor Ladenschluss geschafft. Hier noch die Zahlen: 283 Kilometer, 1500 Höhenmeter, knapp 12 Stunden Fahrtzeit, 15,5 Stunden insgesamt. Das Beste: Am nächsten Tag auf dem Rad sitzen ist kein Problem - weder für den Rücken noch den Hintern. Der Sattel ist also approved!

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