Samstag, 28. Mai 2016

Über Ehrgeiz, Versagen und Zieldefinition

Ich dachte immer, ich sei faul. Mit geringem Aufwand so gut wie möglich durchkommen - so habe ich zum Beispiel mein Abi bestanden. Als mir zum ersten Mal jemand im Zusammenhang mit Sport, konkret Laufen, gesagt hat, ich sei ehrgeizig, musste ich eine Weile darüber nachdenken. Bin ich das? Ehrgeizig ist für mich jemand, der in einer Sache alles daran setzt, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Der viel lernt oder trainiert, um jeden Preis jedes Detail optimiert, immer wieder alles in Frage stellt, zu den besten gehören will. Der Duden sagt dazu: Ehrgeiz = starkes oder übertriebenes Streben nach Erfolg und Ehren. Typische Verbindungen: unbändig, anstacheln, zerfressen, krankhaft, Eitelkeit. Aber auch: befriedigen, Ausdauer, Intelligenz, Fleiß.

Ich würde noch immer sagen: Nein, ich bin nicht ehrgeizig, ich mache schließlich nicht alles perfekt. Ansonsten hätte ich einen effektiven Trainingsplan, einen Ernährungsplan, würde auf dieses und jenes stärker achten. Ich hab aber was anderes: Ansprüche. Scheiße hohe Ansprüche. An mich selbst. Wusste ich erst mal gar nicht. In Gesprächen mit einigen Rookie-Triathleten, die dieses Jahr zum ersten Mal starten, ist mir das allerdings nochmal sehr bewusst geworden - das ist der Grund für diesen Artikel.


Kurze Zeitreise:
September 2014, ich habe meinen ersten Triathlon gefinisht. Von den 5 km Laufstrecke bin ich gefühlt das meiste gegangen. Ok, ungeil, aber erster Triathlon, 5 km laufen klappte auch ohne schwimmen und radeln vorher nur so grade eben - also hey. Nicht so toll, aber naja. Schwamm drüber.
Mai 2015, zweiter Triathlon. Mittlerweile konnte ich 10 km halbwegs locker laufen und bin an die zweite Volksdistanz mit der Erwartungshaltung ran gegangen, dass ich die 5 km ja wohl locker durchlaufen werde. Bin ich nicht. Ich bin abwechselnd gerannt und gegangen. Am Ende stand als reine Laufzeit eine auf der Uhr, die ich zu dem Zeitpunkt definitiv nicht hätte laufen können - wie darin noch einige Gehpausen untergebracht sein können, ist mir bis heute ein Rätsel. Das Gefühl im Ziel: Versagen.
November 2015, erster Halbmarathon. Offizielles Ziel: Finishen. Inoffizielles, nicht ausgesprochenes Ziel: Gut durchlaufen. Offizielles Ziel erreicht: ja. Inoffizielles Ziel: sehr, sehr weit davon entfernt. Wandertag. Macht folgendes Gefühl im Ziel: Versagen. Erklär mal jemandem, der mit Sport nichts am Hut hat, wieso du dich scheiße fühlst, obwohl du was eigentlich Tolles geschafft hast.
Januar 2016, erster Lauf der Winterlaufserie. 10 km, ich war zuvor verletzt und die Erwartungen dementsprechend im Keller. Es lief trotzdem oder gerade deshalb spitze: ein toller, voll zufriedenstellender Lauf, neue Bestzeit. Gefühl im Ziel: Glück. Dankbarkeit. Seitdem läuft es. Der Halbmarathon bei der Winterlaufserie hätte besser kaum sein können; der Brückenlauf war hart, aber schnellin Breitscheid ist die 10-km-Bestzeit kürzlich erneut ganz schön gepurzelt - und zwar mit Spaß.


Warum erzähl ich den ganzen Quatsch? Weil ich davon überzeugt bin, dass der verdammte Schlüssel zu mehr Gelassenheit und weniger Druck ziemlich simpel ist: realistische Erwartungen. Natürlich will ich auch, dass immer alles perfekt läuft. Es gibt aber Situationen, bei denen ich weiß, dass es das voraussichtlich nicht tun wird. Bestes Beispiel: September 2015, meine erste Triathlon-Kurzdistanz. Ich habe damit gerechnet, dass ich die 10 km nicht am Stück laufen werde. Nicht nach dieser Radstrecke, nicht nach zwei Stunden Belastung zuvor. Schön wärs gewesen, aber unrealistisch. Ich konnte selbst meinen Plan, nur alle 2,5 km an den Verpflegungsstationen zu gehen, nicht einhalten. Das war mir nicht egal, aber ich habe es akzeptiert. Zum ersten Mal fühlte sich ein Finish, das nicht den Erwartungen entsprach, nicht nach Versagen an (und das lag nicht nur daran, dass der einzige Gedanke im Ziel "KLO! Sofort!" war).

Ich möchte mir eigentlich nicht anmaßen, kluge Ratschläge zu geben, weil ich auch nur aus meiner eigenen, bescheidenen Erfahrung berichten kann. Aber eventuell hilft es jemandem und deshalb möchte ich zwei Sachen sehr deutlich sagen:

1. Hör sehr genau in dich hinein. Hör nicht darauf, was du sagst, sondern was du fühlst. Vielleicht hast du vor anderen "nur ankommen" schon mal als Ziel ausgerufen. Vielleicht wäre das auch objektiv das Vernünftigste, aber fühlt es sich gut und richtig an? Könntest du damit zufrieden sein? Wie ist deine Erwartung, dein Anspruch an dich selbst wirklich?

2. Wenn du das rausgekriegt hast - hecke einen Plan aus. Mit A, B, von mir aus auch C und zur Not Z. Probiere mal realistisch einzuschätzen (oder frag Trainer, Lauftreffkollegen, etc.), was du schaffen kannst - das Ziel darf dir ruhig ein bisschen Angst einjagen, aber sollte nicht komplett an der Realität vorbei sein. Stimmt das in etwa mit den Erwartungen überein? Perfekt. Das ist Plan A. Könnte es noch ein klitzekleines bisschen besser laufen? Klar - du kannst dich natürlich jederzeit selbst übertreffen! Könnte etwas schief gehen? Klar! Vor allem im Triathlon.


Auf den Rennverlauf wirken so unheimlich viele Faktoren und äußere Bedingungen ein, dass du besser einen Plan B im Kopf hast. Auf den greifst du zurück, wenn nicht mehr alles optimal läuft, sondern du bestimmte Abstriche machen musst. Zum Beispiel langsamer radfahren, weil es regnet. In der Wechselzone mal kurz gehen und durchschnaufen, weil du spürst, das wäre gerade nicht verkehrt. Brustschwimmen, wenn du nicht mehr Kraulen kannst. Ein Stück gehen, wenn du nicht mehr Laufen kannst. Wenn du es schaffst, Plan B anzunehmen, kannst du dein Rennen weitermachen und finishen, ohne dich wie ein Versager zu fühlen. Du erfüllst einfach einen anderen Plan. Ja, du konntest den Erwartungen von Plan A nicht gerecht werden, das ist später sicher etwas enttäuschend. Aber dafür gibt es Gründe, die du in Ruhe analysieren und beim nächsten Mal eventuell vermeiden kannst (zum Beispiel meine nicht ausreichende weil nicht vorhandene Ernährung beim Halbmarathon). Du kannst die Pläne mit Wunsch-Zielzeiten verknüpfen, für mich funktioniert es besser, auch das unterwegs anzupassen.

Plan C könnte übrigens sein: Nicht nur ein oder zwei Kleinigkeiten gehen schief, sondern so einiges. Du bist weit entfernt von "gut durchkommen" oder deiner angepeilten Zeit und es zählt nur noch, dass du überhaupt ankommst. Erlaub dir ruhig, stolz darauf zu sein, wenn du es schaffst! Du hast zwar nicht das erreicht, was du wolltest, aber du hast unter schwierigen Bedingungen unter Beweis gestellt, dass du dich durchbeißen kannst. Es gibt eine sehr breite Spanne zwischen "alles läuft perfekt" und "alles geht schief" - zwischen Erfolg und Versagen, egal ob objektiv oder subjektiv, liegt noch eine echt große Mitte. Kann wirklich nicht schaden, sich mit der mal anzufreunden, damit es nicht mehr nur diese zwei Optionen gibt.

Wenn das so klappt, sind wir übrigens bei den positiv konnotierten häufigen Verbindungen zu Ehrgeiz: eigene Erwartungen befriedigen, intelligente Pläne aushecken und Situationen analysieren, in der Vorbereitung und auf dem Weg zum Ziel Ausdauer und Fleiß beweisen. Ich finde, der eigene Ehrgeiz kann auch ruhig mal zu Höchstleistungen anstacheln (ich sag nur Autobahnbrückensprint!), viel wichtiger ist es aber, sich nicht davon zerfressen zu lassen, wenn es mal nicht so läuft wie gewünscht. Pläne anpassen ist nicht Versagen! Und jetzt: viel Erfolg bei den ersten Rennen!

Fotocredits: Bild 2: Christian Siedler; Bild 3: Raffael Herrmann.