Freitag, 26. Mai 2017

Raceday No. 35 - Metro Marathon Düsseldorf 2017

Wer gerade erst einsteigt, dem sei gesagt: Ich wollte nie Marathon laufen. Aber dann stand ich 2016 als Helfer an der Ziellinie beim Metro Marathon in Düsseldorf und schon war es um mich geschehen. Alles zur heimlichen Vorbereitung habe ich von Juni 2016 bis April 2017 in zwei Artikeln mit geschrieben: Teil 1 und Teil 2


Seit fast vier Wochen liegt der Marathon-Artikel nun wie ein leeres Blatt im Entwürfe-Ordner. Ich finde keinen Einstieg. Der Kopf hat noch nicht fertig sortiert, ich weiß nicht genau, was dieser Lauf für mich ist, was er bedeutet. Ich weiß nur, was er nicht ist: Ich habe mir keinen Traum erfüllt. Es ist nicht so, als hätte ich mir schon immer ausgemalt, irgendwann einmal einen Marathon zu laufen. Wozu auch? Ich hätte vor drei Jahren niemals mit dem Laufen angefangen, wenn das Ziel 42,195 Kilometer gewesen wären. Viel zu weit weg. Viel zu utopisch. Viel zu absurd.

So schnell kann sich das ändern. Seit Anfang des Jahres läuft die Marathonvorbereitung. Ich habe nie ernsthaft daran gezweifelt, ins Ziel zu laufen. Aber dass das Ganze aber auch keine Kleinigkeit ist, merke ich spätestens an meinem Zustand in der Woche vor dem Lauf. Ich bin zart besaitet, launisch, leicht in alle Richtungen zu beeinflussen. Das erkennt nach dem ersten (und einzigen) richtigen Tiefpunkt zum Glück auch meine Freundin Steffi, dir mir von da an einfach jeden Tag schreibt, ich sei super. Was ich zuerst übertrieben finde, wirkt. Schöne Gehirnwäsche. Außerdem trudelt ein Päckchen bei mir ein, das ich ohne ihre Erlaubnis nicht öffnen darf. Stattdessen beäuge ich es von allen Seiten und drücke darauf rum. Am Abend der Pastaparty kommt dann endlich ihre Freigabe: Ich packe zwei Metallplättchen aus, die man in die Schnürsenkel friemeln kann. Was ein Quatsch - eigentlich. Aber auf meinen Exemplaren steht: "she believed she could" und "so she did". Und damit treffen sie exakt den Kern dieser ganzen Marathon-Sache. Ich mag das Wort "glauben" nicht, weil ich Sachen entweder weiß oder nicht weiß, alles andere ist Blödsinn. Aber die Idee ist die gleiche: Ich habe es für möglich gehalten, einen Marathon zu laufen, und deshalb werde ich genau das machen.


Raceday. Guten Morgen Marathon. Ich habe gut geschlafen, richtig gut. Bin zwei Minuten vor dem Wecker wach und gut gelaunt - das passiert morgens selten. Da ist keine Angst, keine negative Spannung, eher dieses Gefühl, gut für eine Prüfung gelernt zu haben und sie nun endlich schreiben zu wollen. Allerdings ist da auch kein Appetit. Zum Frühstück zwinge ich mich trotzdem. Mich erreicht eine Sprachnachricht, die mich auf dem Weg zur U-Bahn zu Tränen rührt. Scheiße, fange ich jetzt schon an zu heulen, bevor es überhaupt los geht?

Ich bin in der Altstadt mit Christian verabredet, vor McDonalds, wo sich normalerweise die coolen Kids treffen, bevor sie die längste Theke der Welt unsicher machen. Das steht auch noch auf meinem Programm für heute, dazwischen liegen nur noch 42 Kilometer und ein paar Stunden. Praktisch am Düsseldorf Marathon: Wenn du ins Ziel kommst, bist du direkt in der Altstadt. Fein.



Vor dem Start muss ich noch meinen Kleiderbeutel abgeben, was eine verdammte Ewigkeit dauert, und natürlich obligatorisch aufs Dixi. Auch diese Schlange zieht sich, das Timing passt aber perfekt. Ich kann gerade noch meine Eltern begrüßen, mich in den Startblock stellen und muss dann nicht lange warten, bis es losgeht. Hab ich schon erwähnt, dass ich eher kleinere Veranstaltungen vor der Haustür sehr liebe? An der Startlinie stehen nur etwas mehr als 2600 Marathonläufer. Etwas später folgen uns fast genauso viele Staffeln. Countdown, epische Musik, Startschuss. Los gehts.







Sobald die Musik aus dem Startbereich nicht mehr zu hören ist, wird es still. Die Action am Streckenrand ist überschaubar, ein paar Läufer unterhalten sich, die Atmosphäre ist friedlich und ruhig. Allerdings nur so lange, bis bei Kilometer 1 ein älterer Herr oben auf seinem Balkon zwei Topfdeckel mit voller Inbrunst gegeneinander schlägt. Fantastisch!

Ich habe mir eine 6:20er Pace vorgenommen. Sollte ich die halten können, stünden am Ende 4:27 Stunden auf der Uhr. Unter 4:30 Stunden fände ich schön, bin heute aber tatsächlich nicht so krampfig auf irgendeine Zeit fixiert. Das ist beim ersten Mal wohl ziemlich vernünftig. Dass die 6:20 min/km sich am Anfang erst einmal wie schleichen anfühlen, habe ich geahnt und trabe daher den 4:30 Pacemakern hinterher. Das klappt gut, bis die gesamte Gruppe bei Kilometer 5 am ersten Verpflegungsstand anhält. Ich will nichts trinken und schon gar nicht stehen bleiben und laufe daher alleine weiter.

Ich fühle mich gut, denke nicht daran, was noch alles vor mir liegt, sondern trabe in diesem fluffigen Tempo einfach weiter vor mich hin. Vorbei an meinen Eltern, an Kati und Naomi und durch das Viertel, in dem ich arbeite. Ein sehr dicker Mann hockt auf einem Campingstuhl am Streckenrand, Bier in der Hand, auf dem Tisch neben ihm steht das Fässchen. Er scherzt: "Da bekomm ich ja fast Lust, auch mitzulaufen!" Düsseldorf, du punktest vielleicht nicht durch bombastische Stimmung, aber du bist auf deine ganz eigene Art unheimlich charmant!


Es geht über die Oberkasseler Brücke rüber auf die andere Rheinseite. Auf der Brücke fahren auch U-Bahnen, was die japanischen Läuferinnen vor mir scheinbar derart fasziniert, dass sie erst einmal für ein Foto mit der Bahn posieren. Okay. Kilometer 15 und mir wird langweilig. Dass hier hinten auf diesem Teil der Strecke der Hund begraben sein würde, war mir klar. Dass allerdings schon so früh ein Anflug von keine Lust mehr kommt, ist ungut. Ich schaffe es, die negativen Gedanken zu stoppen. Überlege mir, wie oft ich hier am Rhein schon entlang geradelt bin, was diese wahnsinnig schnellen Staffelläufer eigentlich für schöne Beine haben, dass ich hier in dieser Nebenstraße mal einen Babysitterjob hatte, dies und das. Beim Verpflegungsstand bei Kilometer 18 oder 19 komme ich auf die Idee, eine halbe Banane zu essen. Ich möchte sie am liebsten sofort wieder ausspucken, denn die matschige Pampe wird im Mund immer mehr. Ich kriege den Bananenmatsch beim Laufen kaum runter und ärgere mich, nicht einfach bei den erprobten Gels geblieben zu sein. Ab jetzt erst mal trinken, trinken, trinken, weg mit dem ekligen Bananenzeug.

Halbmarathonmarke. 2:12 Stunden - gut eineinhalb Minuten vor der geplanten Zeit, aber überpacen ist auch anders. Also locker weitermachen. Endlich ist am Streckenrand mal mehr los: Ich klatsche Kinderhände ab und freue mich, dass es gleich zurück über den Rhein auf die andere Seite geht. Die Brücke erstickt die Freude, denn der Wind gibt mir das Gefühl, kein bisschen von der Stelle zu kommen. Die Aussicht lässt mir allerdings das Herz aufgehen: Der Blick auf Düsseldorf, die Altstadt, den Schlossturm, den Rheinturm, dazwischen das Ziel - ich bin jetzt so nah dran, aber muss noch 21 Kilometer laufen. Runter von der Brücke, zwischen den Häusern pustet der Wind nicht mehr so wahnsinnig stark. Zum inzwischen dritten Mal laufe ich an meinen Eltern vorbei, deren Aufgabenverteilung immer noch die gleiche ist: Papa fotografiert und Mama klatscht Beifall. Hach!


Bei Kilometer 25, irgendwo in der Nähe der Kö, rechnet ein Spaßvogel hinter mir seinem Nebenmann vor: "Nur noch 17 Kilometer!" Ich würde ihn gern erschlagen. So langsam wird es anstrengend und ich ahne, dass ich für die zweite Hälfte etwas mehr Zeit einkalkulieren muss. Ich schiele auf die silbernen Plättchen in meinen Schnürsenkeln. Kann die Aufschrift beim Laufen nicht lesen, aber sage mir den Spruch wie ein Mantra immer wieder vor. Zähle die Silben. Eine bei jedem Schritt. Und wieder von vorn. Es sind übrigens acht. Völlig überraschend stehen Naomi und Kati bei Kilometer 27 - damit hatte ich nicht gerechnet. Die Begegnung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, ich nehme einen ordentlichen Energieschub mit über die Eisenbahnbrücke und sehne dann den nächsten Verpflegungsstand bei Kilometer 28 herbei. Die Brehmstraße empfängt mich mit Wind aus der Hölle. Hier pustet es mindestens so schlimm wie auf der Brücke, nichts geht mehr und laufen erscheint mir komplett absurd. Ich nehme zwei Becher, einmal Wasser und einmal Iso, und gehe zum ersten Mal. Gehen und trinken. Trinken und gehen. Die Temperaturen sind auszuhalten, obwohl es heute ganz schön warm ist, aber dieser verdammte Wind raubt mir echt die Körner.


Ich mag den Teil der Strecke, der jetzt kommt, sehr. Um den Zoo-Park, Hans-Sachs-Straße, das Viertel ist einfach schön. Die Anwohner veranstalten ein kleines, aber feines Straßenfest bei Kilometer 30 und ich würde das alles einfach gern mehr genießen. Mein unterer Rücken sieht das anders und zwingt mich bei Kilometer 31 zu einer Gehpause. Ich weiß, dass ich es bis zum Wehrhahn schaffen muss, dass bei Kilometer 32 Christian auf mich wartet. Dass ich von dort noch 10 Kilometer laufen muss, ist ein anderes Thema, erst einmal heißt das Ziel: irgendwie am Wehrhahn ankommen. Ich versuche mich abzulenken, indem ich nach den Jungs aus der Staffel Ausschau halte. Gestern bei unserer Pastaparty haben wir versucht zu berechnen, wer mich wann überholen müsste (das hat ja in Mathe mit den Zügen auch noch nie geklappt) - eigentlich sollte es jetzt langsam so weit sein. Ich sehe keinen, stattdessen überholen mich die 4:30 Pacemaker.

Christian steht wie verabredet am Streckenrand und wird mich ab jetzt begleiten. Als er vor 10 Monaten angeboten hatte, ein paar Kilometer mit mir zu laufen, war ich nicht sicher, ob ich das möchte. Ich dachte, es würde sich nicht richtig anfühlen, den Lauf nicht alleine zu schaffen. Dass ich meine Beine trotzdem selbst zu jedem Schritt überreden muss und mir das keiner abnimmt, ist mir dann irgendwann auch klar geworden, also habe ich zugesagt. Ich wusste außerdem nicht, ob ich möchte, dass mich jemand nicht nur kurz im Vorbeilaufen, sondern einige Kilometer lang leiden sieht. Jetzt weiß ich: Diese Unterstützung ist unbezahlbar. Wir laufen mal nebeneinander, mal hintereinander, ich höre mir an, wie es bei der Staffel bisher gelaufen ist und versuche, nicht zu detailliert auf meinen Wehwehchen rumzureiten. Nach kurzer Zeit muss ich dann aber doch gehen und bin froh, dass ich keine vorwurfsvollen oder mitleidigen Blicke ernte, sondern einfach mein Ding machen kann. Die Rückenschmerzen kann ich nicht mehr ignorieren, auch die Botschaft "no hay dolor", die an Christians Rucksack klebt, hilft nicht. Doch, es gibt sehr wohl Schmerz. Er ist im Rücken, im Knöchel und im Magen. Ich versuche, mich nicht darüber zu ärgern, dass ich aus dem Training keine derartigen Schmerzen kenne, dass ich 35 Kilometer locker laufen konnte. Jetzt ist es eben anders. Deal with it. Ich gehe, wenn ich gehen muss und ich laufe, wenn ich laufen kann.




Kilometer 34, schon wieder stehen meine Eltern am Streckenrand. Zum ersten Mal bin ich dankbar, dass Christian mir nicht nur Gesellschaft leistet, sondern auch noch seine Kamera mitschleppt. 500 Meter später sehe ich überraschend das nächste bekannte Gesicht: Daniel von Coffee & Chainrings, den ich bald bei seiner 24h-MTB-Weltmeisterschaft in Italien unterstützen werde, steht mit seiner Tochter am Rand. Und er macht das, was er immer macht: ein Live-Video. Als ich ihn entdecke, wandere ich gerade die Berliner Allee hinauf und drücke mir das dritte und letzte Gel hinein, weil der Magen langsam endlich besser wird. Live-Video vom Marathon und dann erst mal spazieren? Ups. Ich nehms mal als Anlass, weiter zu laufen.




Kilometer 36. Hier gibt es Orangenscheiben. Ich will auf keinen Fall nochmal den gleichen Fehler wie mit der Banane machen, aber so ein Stück Orange wird ja wohl klar gehen? Und wie. Oh Mann, wenn das mal nicht die beste Orangenscheibe auf der ganzen Welt ist! Ab jetzt wird die Strecke nochmal richtig schön, typisch Unterbilk. An der Bilker Kirche stehen so viele Leute, dass ich meine Kollegin Lena übersehe, die mit Laufen eigentlich gar nichts am Hut hat, aber extra ein "ichhasselaufen"-Plakat gebastelt hat. Genau das ruft mir unabhängig davon wenige Hundert Meter weiter ein Streckenposten zu. Wie witzig ist das denn? Später stellt sich heraus, wir "kennen" uns von Instagram. Falls du jetzt hier mitliest, vielen Dank!









Rücken und Knöchel sind inzwischen wieder ruhiger, das Laufen wird wieder flüssiger. Die letzte kurze Gehpause lege ich bei Kilometer 39 ein, danach fühlen sich die Beine plötzlich an wie neu und ich freue mich, dass das Laufen keine Qual mehr ist. Sieht mit Sicherheit anders aus, aber fühlt sich wunderbar an! Die Stelle, die ich mir am schlimmsten vorgestellt habe, geht auch vorbei: Bei Kilometer 39 ist der Zieleinlauf beinahe in Sichtweite, Läufer auf Kilometer 41 kommen mir entgegen und ich muss noch einmal in die falsche Richtung abbiegen. Noch ein Schlenker über die Kö, natürlich. Ich sehe Naomi, Kati, Daniel und Renate und ich habe einfach wieder Bock, zu laufen.




Wieder abbiegen, jetzt bin ich diejenige, die den anderen mit zwei Kilometern Vorsprung entgegen kommt. Ein Aufkleber auf dem Boden kündigt an, dass noch ein Kilometer zu laufen ist. Mir geht es prima. Ich spüre schon längst keine Schmerzen mehr, die Beine fühlen sich unnormal gut an. Ich sehne die Ziellinie nicht um jeden Preis herbei, aber so langsam fällt der Groschen, dass ich tatsächlich gleich ins Ziel laufen werde. Achso.





Das Gefühl, dass es nicht zu einfach war, aber dass es mir jetzt trotzdem so gut geht, macht mich zufrieden. Ich habe gekämpft, aber ich bin nicht komplett am Ende, sondern konnte die letzten Kilometer genießen und ganz besonders die letzten Meter. Ich freue mich seit der Anmeldung auf den Moment, wo ich vom Apolloplatz runter zum Rhein abbiege, mit Blick auf die Altstadt, auf die andere Rheinseite, das Ziel in Sichtweite. Ich bin dankbar und froh, dass ich ausgerechnet hier nicht mit jedem Schritt leide und jeden Meter verfluche, sondern dass sich das Laufen auf wundersame Weise wieder gut anfühlt.



Ganz im Ernst: Ich kann mir keinen schöneren Zieleinlauf vorstellen als direkt am Rhein. Dafür kann man schon mal 4:38:12 Stunden durch die Stadt laufen/wandern/traben. Die Entscheidung, zuhause den ersten Marathon zu laufen, war absolut richtig. Und auch, das Ganze vorher nicht groß anzukündigen, hat mir enorm geholfen, den Druck rauszunehmen. Das war mein halbwegs heimliches Projekt, das ich gern etwas kleiner gemacht habe, als es tatsächlich war. Ich habe es geschafft, beim Lauf nicht an 42,195 Kilometer zu denken, nicht an das Wort Marathon. Beides hat in mir in den Tagen zuvor eine schräge Mischung aus Respekt und Kribbeln hervorgerufen, als sei es etwas Großes, ein Mythos. Am Ende ist die genaue Distanz komplett willkürlich, im Prinzip geht es nur darum, ein paar Stunden zu laufen und damit umzugehen, was während dieser langen Zeit so alles passieren kann. Ich bin stolz, dass ich das so gut wie möglich gemacht habe, aber ein anderes Gefühl überwiegt. Ich bin dankbar, dass ich in der Lage dazu bin. Gesundheitlich, körperlich und mental. Dankbar, dass ich mit einem solchen Projekt nicht alleine bin, dass meine Familie und meine Freunde mitfiebern, dass sie auf ihre Art und Weise dabei sind, egal ob sie 600 Kilometer entfernt sind, am Streckenrand stehen, mit mir laufen oder danach mit mir anstoßen. Nichts davon ist selbstverständlich. Danke!




Sämtliche Fotos oben und das Bei-Laune-Halten während der letzten Kilometer geht auf die Kappe von Christian Siedler. Danke dafür!


Glückwunsch an die lustigste, coolste, raketenschnellste Staffel, die ich mir vorstellen kann. Bis zum nächsten Mal!

Freitag, 5. Mai 2017

Mein heimlicher Marathon: Die Vorbereitung - Teil 2

Das ist der zweite Teil meiner heimlichen Marathonvorbereitung. Ich habe seit der Anmeldung im Juni 2016 mitgeschrieben. Kennst du schon Teil 1? Hier findest du ihn.

26.02.2017
Karnevalssonntag. Ich bin im Exil an der Nordsee und wollte das lange Wochenende eigentlich für lange Läufe nutzen. Eine Entzündung/Reizung der Achillessehne hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bisher habe ich die Zeit mit rumsitzen, Fuß hochlegen und kühlen sowie lernen für Klausuren verbracht. Aber es geht aufwärts: Während zuhause in Düsseldorf alle durchdrehen, wage ich den ersten Laufversuch. Die Sehne reibt nicht mehr, in Ruhe und beim Gehen bin ich schmerzfrei. Ich glaube daran, dass das auch beim Laufen so sein wird, aber bin trotzdem gespannt. Kein Anlaufschmerz. Fünf lockere Kilometer. Das muss erst mal reichen, dieses Mal bloß nichts übertreiben. Ich nehme an, dass die Reizung daher rührte, dass ich kurz nach der Erkältungspause direkt 21 Kilometer gelaufen bin. Dazu kamen die für mich ungeeigneten Schuhe und eine scheinbar etwas sensible Sehne. Super Mischung.

Oh, Ostfriesland.
04.03.2017
Ich kann auch vernünftig. In der letzten Woche habe ich sehr genau auf den Fuß gehört und bin zweimal jeweils neun Kilometer gelaufen. Vorsichtig, aber ohne Schmerzen. Samstag dann: Winterlaufserie in Duisburg, 15 Kilometer. Ob es für die längere Strecke noch zu früh ist, weiß ich nicht. So lange ich schmerzfrei loslaufen kann, will ich es versuchen. Es klappt, ich komme ins Ziel - aber schön ist anders. Langsam und mit sehr viel Kampf gegen den Schweinehund war das eine harte Lektion, aber durchgehalten ist durchgehalten. Zu 100 Prozent schmerzfrei war das Ganze noch nicht, der steinige Waldboden fühlte sich nicht gut an. Die Schmerzen sind allerdings weit von denen im akuten Stadium entfernt und ich bin mir sicher, dass ich es gespürt hätte, wenn ernsthaft etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Zwei Tage später trabe ich 11 Kilometer in sehr lockeren 6:20 min/km und stelle fest: Die Sehne ist ruhig. Jetzt dürfen die Strecken also langsam wieder länger werden.


14.03.2017
Es gibt weiterhin keinen Trainingsplan. Das Projekt Marathon ohne Plan wäre nicht meines, wenn es jemand anderes für mich geplant hätte. Ich weiß, dass ich das schaffen kann und ich möchte mich nicht durch feste Vorgaben, Termine und Geschwindigkeiten unter Druck setzen. Ich neige sowieso dazu, mir zu viel Druck zu machen, zu ehrgeizig zu sein und bin sicher, dass dieser Weg besser zu mir passt als ein starrer Plan. Nochmal: Dass ich damit nicht das bestmögliche Ergebnis erziele, ist mir klar, ändert aber nichts an der Vorgehensweise.

Natürlich gehören zu meiner Vorbereitung auch lange Läufe über 30 Kilometer, aber niemand schreibt mir vor, wann ich sie laufe. Ich kann mich noch gut dran erinnern, wie nach der Anmeldung und auch noch zu Beginn des Jahres den Gedanken an die richtig langen Läufe beseite geschoben habe. 30 Kilometer? Laufen?? Also so ganz ohne Fahrrad? Keine Ahnung, wie das gehen soll, aber mal gucken wie das klappt, wenn es so weit ist.


Ich probiere, das Ganze als Abenteuer zu sehen. Mein eigenes Abenteuer. Ich hecke eine Strecke aus, schön durch den Wald, mit einigen bekannten und ein paar neuen Wegen. Mit einer sinnvollen Ausstiegsmöglichkeit etwa nach der Hälfte, falls irgendetwas dazwischen kommt - Achillessehne, Magenprobleme, was auch immer. Ich bin ein kleines bisschen unter Zeitdruck, weil ich erst nachmittags starten kann und es noch relativ früh dunkel wird. Ich bin vorfreudig gespannt, wie es wird, wie es sich anfühlt, so weit zu laufen, wie ich das hinkriege. Mit Trinkrucksack und zur Sicherheit auch mit Gel ausgestattet ziehe ich los. Der Rest lässt sich schnell zusammenfassen: Es läuft und läuft und läuft. Ich schaue nicht auf die Uhr, sondern laufe einfach. Nach Gefühl. Ganz allein. Durch den einen Wald. Um den einen See. Durch den anderen Wald. Um den anderen See. Nicht mehr. Und nicht weniger. Ich bin ohne Begleitung und ohne Musik unterwegs, und als mich später eine Freundin fragt, was zur Hölle ich dabei die ganze Zeit mache, weiß ich nicht, was ich antworten soll. Ich laufe halt. Ich denke dabei an alles. Und an nichts.


Nach 25 Kilometern endet der Wald und die Laternen gehen an. Was für ein Timing! Ich ändere die Strecke noch ein kleines bisschen ab und hänge einen Umweg rund ums Dorf dran, damit ich die 30 noch voll mache. Auf den letzten Metern schiele ich stolz aufs Handy: 30-Kilometer-Marke geknackt, knapp vor der Haustür meiner Eltern, auf meinem ehemaligen Schulweg. Es zwickt hier und da ein bisschen, aber ich habe keine Schmerzen. Mindestens genauso zuversichtlich stimmt mich, dass der Kopf die ganze Zeit mitgemacht hat. Ich habe kein Mal gezweifelt, keinen Moment lang keine Lust mehr gehabt, sondern bin einfach gelaufen. 30,2 km, 3:18 Stunden, 6:33 min/km.

15.03.2017
Der Tag danach: Ich habe ein wenig schwere Beine, aber ansonsten keine großartigen Schäden zu vermelden. Das Beste: Die Achillessehne lässt sich nichts anmerken. Weil das Wetter heute so wunderbar ist, verschwinde ich früher aus dem Büro und will für eine lockere Runde aufs Rad. Beim Gedanken an Bewegung drückt der Körper allerdings einfach mal den Not-Aus-Knopf und schläft nachmittags zuhause auf der Stelle ein. Okay, danke, hab verstanden!

25.03.2017
Wahrscheinlich kennt ihr die Geschichte vom Cyclocrossrennen unmittelbar nach dem Halbmarathon schon. Falls nicht, hier eine superkurze Zusammenfassung: Ich bin in Duisburg von 15-17 Uhr Halbmarathon gelaufen (genau genommen bis 38 Sekunden nach 17 Uhr...), ins Auto gesprungen, zurück nach Düsseldorf gefahren und saß um 18.15 Uhr auf dem Crosser. 35 Minuten querfeldein klingen erst mal halb so wild, ich kann aber versichern: Ist gut anstrengend! Bei der Aktion im Hinterkopf: Du willst Ende April einen Marathon laufen. Mitte Juni eine Mitteldistanz machen. Du solltest also nach zwei Stunden Wettkampf noch dazu in der Lage sein, eine weitere Belastung dran zu hängen. Bin ich offenbar, meine Beine auch, alles wunderbar! Und wie schön wäre eigentlich Triathlon, wenn das Radfahren erst nach dem Laufen käme?


31.03.2017
Eine Woche nach der Halbmarathon-Cyclocross-Geschichte nehme ich mir den nächsten langen Lauf vor. Leider bewegen sich die Temperaturen im Bereich von 1000° und leider habe ich absolut rein gar keine Lust. Ich weiß ja jetzt, dass ich 30 Kilometer laufen kann, da ist der Ansporn, etwas zum ersten Mal zu schaffen, einfach mal auf und davon. Warum das Ganze also nochmal? Wie ich es auch drehe und wende - es führt kein Weg daran vorbei, aber mir fallen 100 Sachen ein, die ich gerade lieber machen würde. Hilft ja nichts.


Um mich halbwegs bei Laune zu halten, hecke ich dieses Mal die Strecke nur sehr grob aus und überlege mir die Details unterwegs. Nach sieben Kilometern biege ich einfach in einen Weg ab, den ich nicht kenne, von dem ich nicht weiß, wohin er führt. Volltreffer. Die unspektakuläre Abzweigung entpuppt sich als traumhaft schöner Trail. Wenig später entdecke ich im Wald einige neue Wege, die ich definitiv nochmal mit dem Crosser genauer unter die Lupe nehmen muss. Die Strecke ist fantastisch, aber es ist immer noch heiß und ich habe immer noch keinen Bock. Weil bisher kaum Blätter an den Bäumen sind, spendet der Wald nicht mal vernünftigen Schatten. Bei Kilometer elf finde ich eine Hütte, die wahrscheinlich Spaziergängern Schutz vor Regen bieten soll. Ich setze mich rein, weil hier Schatten ist und weil ich kurz sitzen kann. Scheiße, Null Bock und noch 20 Kilometer to go.


Ich habe es genau so gewollt. Dass ich problemlos zum ersten Mal 25 und 30 Kilometer gelaufen bin und mir die Halbmarathon-Cyclocross-Geschichte auch keine ernsten Schwierigkeiten bereitet hat, ist zwar einerseits schön, macht es mir aber anderseits auch nicht leichter, wenns drauf ankommt. Wenn es am Tag X schwer wird, bringt es mir rein gar nichts, wenn vorher immer alles einfach war. Ich möchte mich einmal durchbeißen müssen; möchte mich später dran erinnern können, wie ich etwas gemeistert habe, was mir schwer fiel, wozu ich mich überreden musste.


Natürlich sehe ich das an diesem sonnigen Freitagnachmittag komplett anders. Die Temperaturen machen mir zu schaffen, außerdem steckt mir die gestrige Radeinheit inklusive Sprint in den Beinen. Es läuft einfach nicht. Immer wieder mache ich Pausen, schaue in den Wald, auf den See, aufs Handy. Nehme Gels, trinke den Rucksack fast leer, freue mich zwar über wirklich tolle neue Wege, aber möchte gleichzeitig einfach nur nach Hause. Ich weiß nicht wie, aber am Ende kommen 31 Kilometer zusammen. Weil das Zeitmanagement diese Woche aus der Hölle kommt, dürfen die Beine danach nicht mal aufs Sofa, sondern tragen mich noch zum Milliarden-Konzert. Schön wars nicht (der Lauf, das Konzert schon), aber genau diese Lektion war nötig.

02.04.2017
Noch genau vier Wochen bis zum Marathon. Die Beine haben vier Tage Belastung in Folge gut verkraftet (Rad, langer Lauf, Rad, 5 km Wettkampf mit An- und Abreise per Rad). So gut, dass es reicht, um spaßeshalber die 5-km-Bestzeit wenigstens um 5 Sekunden zu verbessern. So langsam aber sicher schwant mir, dass am 30. April weder Kondition noch Beine das Problem sein werden. Es ist wie so oft der Kopf.


09.04.2017
Eigentlich gute Voraussetzungen, wenn voraussichtlich "nur" der Kopf Schwierigkeiten machen könnte. Wenn ich mir sicher bin, den Marathon körperlich zu schaffen, dann ist das eine recht komfortable Ausgangslage und ich weiß genau, wo die Baustelle ist. Beste Medizin und Motivation pur: Marathonluft schnuppern. Genau 3 Wochen vor meinem Lauf habe ich das Glück, mit den Kollegen nach Rotterdam fahren zu dürfen. Wir haben mit den einzelnen Bunert Standorten und New Balance das Projekt "Dein Erster Marathon" ins Leben gerufen. 22 Läufer stehen heute nach neun Monaten Vorbereitung an der Startlinie, um ihren ersten Marathon zu laufen. Ich habe spontan noch einen Startplatz für den 1/4 Marathon bekommen, der zeitgleich mit der vollen Distanz startet, aber über die letzen 10,55 km der Strecke führt. Den richtigen Rennbericht bin ich noch schuldig, konnte ihn aber bisher nicht schreiben, ohne den Düsseldorf Marathon zu erwähnen. Denn jeder einzelne Meter auf der fantastischen Rotterdamer Strecke ist für mich nur eines: Pure Motivation für Düsseldorf.


11.04.2017
Der letzte lange Lauf steht an. Beschwingt und voller Energie aus Rotterdam bin ich zurück zuhause. Ich muss mein Auto bei meinen Eltern abholen, will dort hin eigentlich radeln, vor Ort im Grünen den langen Lauf erledigen und das Rad auf dem Rückweg ins Auto schmeißen. Wieso laufe ich eigentlich nicht gleich zum Auto? Kein Stress mit dem Rad-Transport, ein gutes Ziel und mal wieder eine neue Strecke. Weil ich 35 Kilometer unterbringen will, muss ich noch eine ordentliche Schleife einplanen. Der Weg führt mich vom Derendorfer Büro direkt an den Rhein, in nördlicher Richtung bis Kaiserswerth, Kalkum, Angermund, Lintorf, Duisburg, mit Schlenker zur Sechs-Seen-Platte und zurück nach Lintorf. Ich baue extra viele asphaltiere Wege ein, weil ich nicht nur im Wald trainieren möchte, wenn ich später auf der Straße laufen muss. Viele Streckenabschnitte kenne ich daher vom Radeln, andere sind mir komplett neu. Das haben alle meine langen Läufe gemeinsam: Damit sie nicht langweilig werden, erkunde ich neue Wege (die übrigens jedes Mal zur Sechs-Seen-Platte in Duisburg führen). Und jedes Mal bin ich alleine mit mir selbst unterwegs: ohne Begleitung, ohne Musik, nur zusammen mit dem Köpfchen, das zu viel denkt.


Die Sonne scheint, es ist aber nicht zu warm. Nach den ersten zwei, drei zu schnellen Kilometern pendelt sich mein Tempo bei fluffigen 6:30 min/km ein. Fein. Ich habe das Gefühl, ich könnte so ewig weiterlaufen. Nichts zwickt, nichts tut weh, ich bekomme genug Luft, die Beine sind locker. Wieder bin ich mit Trinkrucksack und Gels unterwegs und mache mir überhaupt keinen Stress. Heute absolut kein Zeitdruck: Wann genau ich das Auto hole, ist egal. Ich halte kurz an, wenn ich Schafe oder Rapsfelder fotografieren will und trabe dann weiter. Alleine auf Entdeckungsreise, auf einer Strecke, die mir vor ein paar Monaten niemals im Traum eingefallen wäre, zu Fuß zurück zu legen. Jetzt mache ich genau das und denke dabei an nichts, außer wie schön es ist, dass ich genau das machen kann. Dass meine Beine mich vom Büro mitten aus der Stadt so weit tragen, raus ins Grüne, in den Wald, in eine andere Stadt.


Alles ist prima, bis es bei Kilometer 29 bergauf geht. Nur ein bisschen. Aber nach fast 30 Kilometern! Wie gemein. Mir fällt ein, dass die Marathonstrecke bei Kilometer 32 über eine Eisenbahnbrücke führt. Also üben wir das doch einfach schon mal. Puh. Kurz bevor ich mich dazu entschließen kann, den Hügel doch nach oben zu wandern, biegt die Erste Herren Handballmannschaft "meines" Vereins um die Ecke. Ach du Scheiße. Während die Jungs hier wahrscheinlich locker flockig fünf Kilometer durch den Wald rennen, habe ich 29 Kilometer in den Beinen. Die flitzen bergab, ich schleiche bergauf. Urgs. Wir kommen vom Dorf, man kennt sich. Vor lauter Erstauen über die plötzliche Begegnung kriege ich nicht mehr als ein "Oh, hallo!" über die Lippen (schließlich renne ich auch bergauf!). Ich erinnere mich gut an den Citylauf vor eineinhalb Wochen, ebenfalls vom gleichen Verein organisiert und in unserem Heimatdorf. Ich hatte mit den 25 Minuten auf 5 Kilometern geliebäugelt und sie schon fast wieder verworfen, als mich bei Kilometer 4 eben genau diese Jungs überholt haben. Wir hatten das gleiche Ziel, ich wollte mich mitziehen lassen. Das hat ungefähr 100 Meter lang funktioniert, dann waren die Beine leer und der Puls am Anschlag. Beim letzten Mal haben sie mich abgehängt, aber jetzt packt mich der Ehrgeiz. Ich werde hier nicht hoch gehen. Auch wenn ich schon drei Stunden unterwegs bin. Scheiß drauf. Stattdessen erhöhe ich auf den nächsten beiden Kilometern das Tempo und wiesele nach Hause. Tu'S für Lintorf! Am Ende: 35,5 km, 3:51 Stunden, 6:31 min/km. Tschakka!

12.04.2017
Die Beine haben den langen Lauf sehr gut verkraftet, das Immunsystem nicht so ganz. Was kratzt da so im Hals?

13.04.2017
Aus dem verdächtigen Kratzen sind ausgewachsene Halsschmerzen geworden. Verdammte Scheiße. Ich merke, wie die Nebenhöhlen immer mehr verschleimen und streiche vorerst sämtliche sportlichen Aktivitäten. Sogar Radfahren. Und das geht eigentlich immer. Selbst Laufen würde ich normalerweise mit der Schnupfnase, so lange kein seltsam farbiger Schleim oder Fieber im Spiel ist. Aber es sind nur noch zwei Wochen bis zum Marathon, da will ich lieber übervorsichtig sein. Ich trinke kein Wasser, sondern nur noch Ingwertee. Ich kann jetzt nicht krank werden!

14.04.2017
Ich bin krank. Na toll.

21.04.2017
Wie gut, dass ich keinen Trainingsplan habe. So kann ich nicht nachzählen, wie viele Einheiten ausfallen. Ich versuche es positiv zu sehen, dass ich den letzten langen Lauf noch mitnehmen konnte - und natürlich, dass er sich so unheimlich gut anfühlte. Wie schlimm kann der Marathon schon werden, wenn ich 35 Kilometer locker laufen kann? Ich weiß, dass mir aus der Vorbereitung nichts wichtiges fehlt. Ich habe zwei Läufe über 30 Kilometer und einen über 35 Kilometer gemacht, dazu etliche darunter. Was fehlt, ist "nur" Tapering. Locker laufen, nur noch kurze Strecken. Wenn es in der Vorbereitung einen guten Zeitpunkt zum Kranksein gibt, dann jetzt. Es fühlt sich trotzdem falsch an, sich eineinhalb Wochen lang gar nicht zu bewegen. Da kann ich mir noch so oft einreden, dass ich gut vorbereitet bin, dass ich mich beim letzten langen Lauf supergut gefühlt habe. Hilft alles nichts. Der Optimismus ist zusammen mit meiner Erkältung verschwunden. Die ist dafür nahtlos in Heuschnupfen übergegangen, was mich aber nicht davon abhält, heute mal vorsichtig auf dem Rad anzutesten, was der Körper denn so von Bewegung hält. Knapp 50 extrem lockere Kilometer stellen absolut kein Problem dar, also kann ich wieder ans Laufen denken.

22.04.2017
Samstag. Ich weiß, dass sich der erste Lauf nach einer Erkältungspause immer scheiße anfühlt. Damit das keine sich selbst erfüllende Prophezeiung wird, versuche ich, die Erwartung umzukehren. Klappt nicht. Ich laufe 5,7 Kilometer durch den Wald und jeder Meter davon fällt schwer. Wie soll ich in einer Woche Marathon laufen, wenn ich jetzt bei so einer lächerlichen Distanz rumeiere? Das einzig Gute: Bei Strava sieht die Strecke aus wie eine Fledermaus.


24.04.2017
Montag. Noch weniger als eine Woche und ich habe keine Lust. Aber so gar keine. Heute gewinnt der Schweinehund, ich laufe nicht.

25.04.2017
Dienstag. Wieder ein Tag ohne Laufen, aber für eine Radfahrt mit André Greipel, John Degenkolb & Co. muss ich die Pläne einfach umschmeißen.


26.04.2017
Mittwoch. Heute führt kein Weg dran vorbei. Damit ich zuhause gar nicht erst auf dumme Gedanken komme, nehme ich die Laufsachen mit ins Büro und starte von dort. Die Lust aufs Laufen tendiert gegen Null, die schon eine Million mal gelaufene Brückenrunde machts auch nicht besser. Um das Ganze wenigstens ein klitzekleines bisschen aufregender zu gestalten, vermeide ich die üblichen Wege und nehme die Trampelpfade unten an den Rheinwiesen. Ich laufe über die Marathonzielgerade und checke schon mal, wo die Markierung mit der 42 ist. Am Ende kommen knappe 13 Kilometer zusammen, die zwar weniger schwer waren als am Samstag, aber trotzdem kein Stück mehr Spaß gemacht haben. Ich will die Leichtigkeit von vor der Erkältung zurück, die Motivation aus Rotterdam, die Lust zu laufen. Alles weg.


Und trotzdem oder gerade deshalb ist genau dieser Tag so wichtig. Ich habe während der gesamten Vorbereitung keine ernsthaften Zweifel gehabt. Auch jetzt denke ich nicht, dass ich den Marathon körperlich nicht schaffen könnte. Ich habe nur Angst davor, dass es härter wird, als ich befürchte, härter, als mein Kopf damit umgehen kann. Angst, dass ich keinen Bock haben könnte, dass sich irgendetwas in mir einfach sträubt, dass ich nicht will, dass ich an der Startlinie stehe und zurück ins Bett möchte. Dass ich bei Kilometer 5 schon keine Lust mehr habe, bei 10 irgendwas weh tut und ich bei 15 aufhören will. Ich lasse alle diese Zweifel zu, betrauere die verlorene Lust am Laufen nach der spaßbefreiten Pflichtübung heute und ich finde heraus, mit wem ich diese Gedanken teile und mit wem besser nicht.


Ich bin empfindlich, fühle mich schnell angegriffen, lese in Nachrichten von Freunden zwischen den Zeilen Vorwürfe heraus, die dort nicht stehen. Dein Training ist schlecht, das haste jetzt davon, wenn du das unbedingt ohne Plan machen musst, deine Motivation ist sowieso fragwürdig. Enttäuschung, Ungerechtigkeit und Wut summieren sich und entladen sich in bitteren Tränen. Vier Tage vor dem Lauf sitze ich also heulend zuhause und frage mich, wieso ich das eigentlich alles mache. Zum Glück bin ich nicht allein mit dem chaotischen Kopf, sondern bin dankbar für Freunde, die in dieser Situation wissen, was zu tun ist. Und das ist nicht trösten, sondern mich mit klaren Ansagen zurück auf den Boden der Tatsachen holen. Ich muss bei mir bleiben. Mich nicht beirren lassen. Mich abgrenzen von allen, die mir bewusst oder unbewusst ein negatives Gefühl geben. Mich daran erinnern, wie gut ich mich gefühlt habe. Wie stark bei jedem einzelnen Lauf. Hallo Leichtigkeit, komm zurück zu mir!

27.04.2017
Donnerstag. Heute kein Sport. Stattdessen google ich, ob es eigentlich einen Ort mit der Postleitzahl 42195 gibt. Gibt es, und er liegt in Indonesien. Da wäre ich jetzt auch gern.

28.04.2017
Freitag. Nach einem halben Tag im Büro verabschiede ich mich ins Wochenende. Die Kollegen lassen mich nicht ohne High Five gehen und wünschen viel Erfolg für Sonntag. Langsam wird's ernst! Ich will die Startunterlagen schon mal abholen und den Jungs und Mädels von SiS hallo sagen, die sich auf der Marathonmesse tummeln. Aber erst einmal geht's in der Düsseldorfer Sparkasse unendlich viele Treppen rauf - zum Glück vor und nicht nach dem Lauf! Die Unterlagen sind schnell abgeholt, die Messe ist auch in 5 Minuten besichtigt. Ich lasse mir ein Pace-Armband drucken: 6:20 min/km lautet mein Plan. Die Zielzeit wäre damit 4:27:14. Der eigentliche Sinn und Zweck des Armbands ist allerdings nicht, eine bestimmte Zeit zu erreichen, sondern mich zu Beginn daran zu erinnern, bloß nicht zu schnell zu laufen. Mal sehen, wie das klappt.


Die Crew von SiS empfängt mich als Markenbotschafterin herzlich. Erste Frage: "Brauchst du noch irgendwas?" Danke! Ich habe Kartons voller Riegel und Gel zuhause, außerdem sind die Verpflegungsstände beim Lauf ja auch mit den SiS Gels und Isogetränken ausgestattet. Beste Voraussetzungen also, dass es mir bekannte Verpflegung gibt und ich nicht allzu viel mitschleppen muss. Ich breche mir noch kurz einen ab, auf Englisch zu erklären, wie es dazu kommt, dass ich jetzt hier zuhause meinen ersten Marathon laufe, was ich mir vorgenommen habe und verabschiede mich dann lieber, bevor das mit der Nervosität noch Überhand nimmt.


Einen allerletzten kurzen Lauf habe ich mir vorgenommen, weil ich nicht mit dem Gefühl von Mittwoch an den Start gehen möchte und wissen will, wie sich die Beine jetzt anfühlen. Es wird wieder die Batman-Runde durch den Wald am Stall, wieder 5,7 Kilometer in der gleichen 6er Pace. Im Unterschied zu letzter Woche Samstag läuft es nur dieses Mal wie von selbst. Die Beine sind locker, der Kopf ist frei - so hatte ich mir das vorgestellt!

29.04.2017
Samstag. Keine Zeit für Aufregung oder destruktive Gedanken, denn ich bin vormittags erst mal beim Treffen der Volunteers für den Grand Départ, den Start der Tour de France in Düsseldorf. Direkt im Anschluss düse ich in Richtung Grevenbroich, in der Hoffnung vom Bergzeitfahren an der Halde, dem Col de Allrath, noch etwas mitzukriegen. Die Reaktionen auf meine Instagram-Story vor Ort von in die Marathon-Pläne eingeweihten Freundinnen sind irgendwo zwischen besorgt und entsetzt: "Was machst du da??" - "Bergzeitfahren." Pause. "Zugucken." - "Ich hätte dir alles geglaubt!"


Nachmittags steht Nudelsauce kochen auf dem Programm, denn abends veranstalten wir unsere eigene Pastaparty. Weil ich am Abend vor dem Marathon ungern alleine zuhause hocken wollte, habe ich die Triathlonfamilie gefragt, ob wir nicht zusammen kochen wollen. Der eine Teil davon war allerdings schon mit "traditioneller Staffelpastaparty" verplant, die dann freundlicherweise für uns erweitert wurde. Acht Menschen, alle in vorfreudiger Anspannung, aber ohne sich gegenseitig verrückt zu machen, dazu bergeweise Nudeln, zwei Saucen und ein sensationelles Pesto sind die beste Kombination, die ich mir für den Abend vorstellen kann. Es kommt kein schreckliches "wer hat wie viel trainiert" und "was lief gut oder schlecht" auf den Tisch, sondern wir freuen uns einfach nur, uns zu sehen und haben einen witzigen Abend. Ich finde irgendwie den Absprung, bevor es zu spät wird.

Natürlich kann ich zuhause nicht auf einen Knopf drücken und einschlafen, sondern surfe erst noch durch das gesamte Internet, bis ich schließlich im Bett liege und an morgen denke. Ohne Angst. Aber mit einer Portion Respekt, die größer ist als meine drei Teller Nudeln zusammen. Fühlt sich ein bisschen nach Klassenarbeit schreiben an, nur mit mehr Spaß. Ich habe gut gelernt. Da ist sie, die Antwort auf die Frage nach dem Warum. Ich will genau diese Aufregung. Das Ziel war vor elf Monaten beängstigend groß. In den letzten Wochen ist es näher gekommen, und zwar nicht nur zeitlich. Es ist machbar geworden, ermöglicht eine neue Denkweise. Ein Marathon ist nicht mehr absurd, sondern genau das, was ich morgen laufe.