Dienstag, 12. September 2017

Raceday No. 46 - Vulkanbike MTB-Halbmarathon

Wenn ich die Matschkruste vom Garmin abwische, kann ich für einen kurzen Moment sehen, wie weit wir schon gekommen sind – aber nur so lange, bis neue braune Spritzer die Sicht versperren. 35 Kilometer. Wenn ich mich für die kurze Distanz entschieden hätte, wäre ich jetzt im Ziel. Hab ich aber nicht. Bin ich also nicht. Als ich vor fünf Wochen eine Probefahrt auf dem Mountainbike gedreht habe und es leihweise mit nach Hause nehmen durfte, habe ich beschlossen, dass 35 Kilometer keine Herausforderung sind, die mich reizt. Jetzt habe ich den Salat: 65 Kilometer, 1300 Höhenmeter. In der Eifel. Bei Regen. Selbst Schuld.




Ich versuche, irgendwo den Galgenhumor wieder zu finden, aber ich weiß langsam nicht mehr, wo ich noch suchen soll. Von Anfang an keine guten Beine, bergauf heißt es also nur irgendwie überstehen. Das habe ich mir selbst eingebrockt, schließlich musste ich die Woche ja unbedingt schon ein Kriterium und ein kleines Cyclocross-Rennen fahren. Bergab kommt die Angst dazu: Ich bin noch nie bei solchen nassen Bedingungen gefahren. Ich vertraue den Bremsen nicht, dem Grip im Schlamm schon gar nicht, fürchte möglicherweise plötzlich auftauchende Wurzeln, Steine oder ganze Bäume. Und ich bin nass. Bei jedem Aufstehen spüre ich, wie ein kaltes Rinnsal an mir herunterläuft und es sich im Polster bequem macht. Widerwillig setze ich mich zurück in die eiskalte Badewanne, die einmal meine Hose war. Zum Glück habe ich mich für die Neopren-Überschuhe entschieden, die immerhin das Gröbste von den Füßen fernhalten. Kalt und nass sind sie trotzdem. Die Handschuhe werden mit der Nässe immer rutschiger. Meine Brille liegt irgendwo in der ersten Abfahrt, stattdessen habe ich jetzt Dreck und eine Fliege im Auge.




Mein Hintern schläft ein. Da ist irgendwas taub geworden und das fühlt sich nicht gut an. Der Matsch ist magnetisch und hält mein Rad und mich am Boden fest. Es geht bergauf, die Beine wollen nicht mehr, die Lunge auch nicht, der Kopf schon längst nicht mehr. Wieder wische ich das Garmin frei. 40 Kilometer. Ich will nicht mehr, kann nicht mehr. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie zur Hölle ich noch verdammte 25 Kilometer mit wer weiß wie vielen Höhenmetern schaffen soll. Ich weiß es einfach nicht. Die Stimmung ist ganz kurz vorm endgültigen Kippen – und zwar in keine schöne Richtung. Nichts möchte ich lieber als das Rad hinschmeißen, mich daneben auf die Wiese setzen und keinen Meter mehr weiterfahren. Die Zeit anhalten. Sitzen bleiben oder hinlegen, einfach nur abwarten und nichts mehr tun. Das wäre schön. Mir ist alles so egal. Es fehlt nicht viel, aber ich kann das nicht bringen. Ansgar ist direkt hinter mir, ich weiß nicht, wie er das aushält, in diesem nicht vorhandenen Tempo hier den Berg rauf zu kriechen. Wahrscheinlich entdeckt er gerade eine neue Art von Langsamkeit. Vielleicht meditiert er. Vielleicht löst er nebenbei komplizierte Mathe-Aufgaben. Vielleicht schreibt er auch schon mal gedanklich einen Artikel vor. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mir jetzt hier nicht die Blöße geben und mich wie ein trotziges Kind heulend auf den Boden werfen kann.




Der zweite Verpflegungspunkt rettet mich. Anhalten, endlich ein Grund zum Anhalten. Ich will alles. Neues Iso für den Matschhaufen, unter dem sich meine Trinkflasche verbirgt, Banane, Cola. Kurz mal stehen bleiben, die Tränen runterschlucken, durchatmen. Und dann irgendwann weiter. Zu Fuß, weil ich an diesem Anstieg unter gar keinen Umständen wieder anfahren kann. Ich rede mir ein, dass die Cola mich ins Ziel bringen wird. Ich sage es laut, damit ich es selbst glaube. Trag mich ins Ziel, Cola! Noch 25 Kilometer. Wer weiß, was die noch so Schönes bereithalten.
Eine Abfahrt zum Beispiel. Und als ob mir die Tatsache, dass es bergab geht, nicht allein schon hektische Stressflecken ins Gesicht treiben würde, hat diese hier auch noch eine Mischung aus Matsche, Wurzeln, Kurven und Bäumen zu bieten. Ich will da nicht runter. Aber ich muss. Ansgar fährt vor. Ich verliere ihn schnell aus den Augen, suche mir meinen eigenen Weg. Für meine Begriffe ist das hier ganz schön steil. Und rutschig. Geradezu halsbrecherisch. Auf wundersame Weise bringe ich es irgendwie fertig, im Ganzen inklusive Rad unten anzukommen, wo Ansgar auf mich wartet. Ich beschwere mich über die Abfahrt. Er lobt mich, wie gut ich sie gemeistert habe. Vor Schreck falle ich in der Kurve um.



Scheißdreck. Ich würde gerne darüber lachen können, dass ich eine schwierige Abfahrt schaffe, nur um danach wie zum ersten Mal mit Klickpedalen an der Ampel umzukippen, aber ich bin nicht mehr zu Scherzen aufgelegt. Also schon wieder Tränen. Ellenbogen und Knie schmerzen. Jemand hält an und fragt, ob wir Hilfe brauchen. Naja, ein Taxi ins Ziel wäre fein. Nein, keine Hilfe. Ich kündige an, dass ich weiterfahren kann, aber nochmal kurz atmen muss. Beruhig dich. Es geht weiter, zum Glück ist der Weg nicht mehr so anspruchsvoll. Als Ansgar mich kurz wegen einer Pinkelpause allein lässt, kommt der Kloß im Hals zurück. Nicht weil ich alleine bin, zur Abwechslung stresst die Strecke mich gerade wirklich mal nicht, sondern weil ich mir das anders vorgestellt habe. In der kurzen Zeit habe ich in den letzten Wochen das Mountainbiken liebgewonnen, hübsche Unterschiede zum Cyclocross entdeckt und angefangen, eine komplett neue Radsport-Welt ins Herz zu schließen. Und jetzt vergieße ich bittere Tränen, weil mir der Spaß abhanden gekommen ist. Weil mich unter Druck setzt, dass mich alle, aber auch alle überholen. Bergauf, bergab, auf flacher Strecke. Weil es mich danach genauso beunruhigt, dass niemand mehr in unserer Nähe ist. Sind wir die letzten? Weil meine Beine und ich heute keinen Berg mehr hoch wollen. Weil ich in fast jeder Abfahrt Angst habe.

Ich muss aufhören. Aufhören zu heulen und das irgendwie zu Ende bringen. Wenn Ansgar gleich zurück kommt und ich immer noch so aufgelöst bin, wird der arme Kerl ja gar nicht wissen, was er noch mit mir machen soll. Also Zähne zusammenbeißen jetzt. Doofe Mantras aufsagen. Es geht, so schnell es geht und es dauert, so lange es eben dauert.


Bei einer wirklich furchteinflößenden Abfahrt empfehlen die Jungs von der Feuerwehr den Chickenway. Ich hake nochmal nach, ob die Abkürzung wirklich erlaubt ist und muss dann keine Sekunde mehr überlegen. Wenn die Streckenposten das Stück schon als “ziemlich heikel” ankündigen, bin ich der letzte Mensch, der da runter fahren wird. Nur noch zehn Kilometer. Das könnte also doch noch was werden mit der Ankunft im Ziel. Der letzte richtige Anstieg wartet bei Kilometer 53,5: Er ist 1,2 Kilometer lang und hat 10 % Steigung. Also genau das richtige zu diesem Zeitpunkt. Ich habe nicht mehr die Beine und nicht mehr den Biss, hier irgendwie hoch zu kurbeln. Also gehe ich zu Fuß. Konditionell kommt das von der Anstrengung her ungefähr aufs Gleiche raus, aber die Beine kommen auf Laufen besser klar. Mir ist nichts mehr peinlich. Selbst hier hoch wandern ist anstrengend, aber fühlt sich nicht mal so wahnsinnig nach Versagen an, sondern nur wie der Versuch, irgendwie diese verdammte Ziellinie zu erreichen. Die folgende Abfahrt führt über eine steile, rutschige Wiese mit Kurve. Ich klicke auf einer Seite aus und balanciere wie ein Seiltänzer über dem Abgrund. Nur eben ohne Eleganz.

Die Strecke führt noch einmal an einem der Maare vorbei und dafür liebe ich diese Vulkanbike-Geschichte wirklich. Sofern man Zeit zum Gucken hat, ist der Ausblick unheimlich schön. Ich genieße die spärlich gesäten Momente, die mich nicht stressen, die einfach schön sind. In denen man die Konzentration nicht bei 150 % oben halten muss, sondern mal kurz atmen und sich umsehen kann. Der Blick auf das strahlend blaue Wasser, das wunderschön und zugleich ein bisschen gruselig ist und mich an Top Of The Lake denken lässt. Der märchenhafte Tunnel aus Bäumen, den die Sonne hellgrün leuchten lässt. Die Ponys am Streckenrand, die ungerührt weiter grasen und denen es scheißegal ist, ob hier gerade hunderte Radfahrer vorbei kommen oder nicht. Die kleinen Bäche und Teiche, einsame Hütten und Bänke, die dazu einladen, sich niederzulassen und eine Brotzeit zu zelebrieren. Ja, es ist wirklich wunderschön rund um Daun. Man kann hier bestimmt super mountainbiken und nen tollen Tag haben. Bei schönem Wetter. Ohne einen Beinahe-Herzstillstand nach dem anderen.


Mein Lichtblick ist ein Radweg, den Ansgar mir schon vor einigen Kilometern angekündigt hat. Schon seit einer Weile freue ich mich über jedes noch so kurze Stück Asphalt, weil die technischen Herausforderungen dabei gleich Null sind, weil der Kopf entspannen kann, weil es hier einfach rollt. Jeder normale Mountainbiker schläft wahrscheinlich vor Langeweile ein, aber ich sehne das bekannte Terrain herbei. Der Radweg ist fantastisch. Obwohl es ziemlich spaßbefreit ist, mit einem MTB auf Asphalt zu versuchen, schnell zu fahren, freue mich wie ein Kind an Weihnachten. Ist das schön! Oh, wie sehr ich diesen Radweg liebe. Bei knapp 40 km/h und mit Wind im Gesicht fühle ich mich endlich wieder zuhause. Das Herz schlägt stärker für die Straße. Noch.

Der letzte Anstieg mit 8 % nervt nochmal, aber er ist kurz und das Ziel ist nah. Diese beschissene Ziellinie. Vor ein paar Stunden hätte ich wirklich nicht gedacht, dass ich sie aus eigener Kraft erreichen würde. Dummerweise ist es ja genau das, was uns immer wieder diese bekloppten Sachen machen lässt.



Ansgar entdeckt Denise und Christian am Rand, diese fantastischen Menschen, die nicht nur mit mir hier hin gefahren sind, sondern die mich sogar gefahren haben, damit ich im Auto noch dösen konnte. Die den halben Tag im Regen an der Strecke verbracht haben, um mich matschiges Etwas viereinhalb Stunden später wieder in die Arme zu schließen. Die Triathlon-Gang kann auch MTB - danke dafür!




Ein riesiges Dankeschön geht auch von Herzen an das Coffee & Chainrings Team, das mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Ohne die Großzügigkeit und das Vertrauen von Markus wäre mein Start nicht möglich gewesen - denn dann hätte ich nämlich nicht nur 1,5 Kilometer laufen müssen, sondern die komplette Strecke. Danke für die Fahrrad-Leihgabe und das unermüdliche Bestärken, dass ich das kann. Gleiches gilt für Daniel: Danke fürs Zeit Nehmen und Motivieren. Tim, auch wenn deine Pläne manchmal vielleicht utopisch sind, hast du mir trotzdem Mut gemacht. Ansgar, ich habe es schon während unserer Reise oft genug festgestellt: Ohne dich wäre das extrem schwierig bis unmöglich geworden. Danke für deine Begleitung und fürs ins Ziel Schleppen! Das hast du ziemlich gut hingekriegt!

Und bevor sich das jetzt in Richtung Oscar-Rede abdriftet: Ist ja schon gut, ich verspreche euch, ich mach das nochmal!

Die Ergebnisse findet ihr übrigens hier bei Coffee & Chainrings.




P.S. Wer aufgepasst hat, wundert sich vielleicht über Raceday No. 46, weil der letzte Artikel über die Cyclassics die 43 hat. Das liegt daran, dass No. 44 das Wappen von Pulheim und No. 45 die Cyclingworld Cyclocross Challenge ist - auch wenn die keine eigenen Artikel bekommen haben, will ich mal in alter Frank-Turner-Manier richtig weiter zählen.

P.P.S. Wahrscheinlich ahnt ihr es schon, alle Bilder stammen vom großartigen Christian Siedler. Danke!