Mittwoch, 16. Dezember 2020

Buch: Cape to Cape - Jonas Deichmann, Philipp Hympendahl, Tim Farin

Vom Nordkap nach Kapstadt - 18.000 Kilometer mit dem Fahrrad. Mieser Vergleich: Das ist etwa viermal so viel, wie ich im Jahre fahre. Nur eben nicht in 365 Tagen, sondern in 73 Tagen und durch alle möglichen Länder und Klimazonen. Keine Frage, das Abenteuer ist groß, die Geschichte gibt einiges her und ist super spannend. Der Extrem-Abenteurer Jonas Deichmann und der Fotograf Philipp Hympendahl sind diese Herausforderung angetreten. Philipp ist mir ein Begriff, weil wir beide aus Düsseldorf kommen und manchmal mit der gleichen Rennradgruppe unterwegs sind, deshalb habe ich die Reise im letzten Jahr schon über Social Media verfolgt. Seit kurzem gibt's im Delius Klasing Verlag das Buch dazu: Cape to Cape*. Ich habe mein Rezensionsexemplar im Herbst mitgenommen, als ich einen Nachmittag bei einem Gravel Event einen Verpflegungspunkt betreut habe. Bei Sonnenschein auf der Wiese verging die Zeit ruckzuck - und am nächsten Vormittag war ich durch mit den 160 Seiten. Definitiv eine kurzweilige Lektüre!


Nach den zwei Tagen hatte ich das Gefühl, all das Gelesene selbst erst einmal verarbeiten zu müssen. Was für ein Ritt! Unvorstellbar für mich, so viele Erlebnisse und so viele Kilometer in so wenig Zeit unterzubringen. 

Was mir am Buch inhaltlich besonders gut gefällt: Der Autor Tim Farin schafft es, die unterschiedlichen Einstellungen der beiden Fahrer schön zu transportieren. An so ein Mammut-Projekt gibt es nämlich komplett verschiedene Herangehensweisen und dieser Einblick ist für mich ein echter Mehrwert neben schönen Bildern und tollen Geschichten. Für mich kommt rüber: Es gibt kein richtig oder falsch. Du kannst das so angehen oder eben so. 


Ebenfalls ein riesiger Pluspunkt sind die wirklich starken Fotos. Klar, das war zu erwarten, wenn Philipp Hympendahl involviert ist, aber dennoch: Was für Eindrücke! Was mir ein wenig fehlt, sind hierzu mehr Infos: Wie sind die Fotos entstanden, musste oft aneinander vorbei geradelt werden, war der Prozess nervig oder natürlich, wie wurde die Ausrüstung transportiert? Manche Bilder wirken durch den Druck leider etwas grisselig, was den Gesamteindruck für mich jedoch nicht wahnsinnig trübt. Die Mischung aus Bildband und Text ist absolut gelungen. 


Die Story nimmt den Leser vom Nordkap mit bis nach Kapstadt und dazwischen durch sämtliche Länder und Stationen. Die Reise ist so vielfältig, die Eindrücke und Anekdoten so zahlreich, obwohl eigentlich nicht viel passiert, weil in erster Linie Rad gefahren wird. Sehr lange. Jeden Tag. Trotzdem gibt es mehr als genug zu berichten und Cape to Cape* fesselt mich ab der ersten Seite. Als überflüssig empfinde ich die Cliffhanger am Ende vieler Kapitel - die hat das Buch absolut nicht nötig, denn ich hätte es so oder so kaum weglegen können. 

Die Sprache hingegen könnte teilweise ein wenig emotionaler sein - hin und wieder habe ich das Gefühl, nicht so richtig dabei zu sein, sondern nachträglich auf das Szenario zu blicken. Das liegt in der Natur der Sache, wenn keiner der Protagonisten das Buch schreibt, sondern ein externer Autor - und ist zweifelsohne eine riesige Herausforderung, die an manchen Stellen gut und an anderen weniger gut gelingt. Nicht falsch verstehen, das ist Kritik auf sehr hohem Niveau - ich finde das Buch großartig, für meinen Geschmack könnte es nur noch etwas tiefer gehen. 


Viele Stellen führen mir die Größe und Tragweite der Aktion nochmal herrlich vor Augen: Beispielsweise wie eine Krankenschwester sich über die unbedingt zu behandelnden Sitzprobleme äußert, der Patient am nächsten Morgen aber schon wieder auf dem Rad sitzt; oder die Entfernung zum nächsten guten Radladen von läppischen 400 Kilometern. Ok, cool. 

Cape to Cape* ist das richtige Buch für (Rad-)sportler und andere Langstrecken-Fans, die Lust auf Abenteuerluft und ästhetische Bilder haben. Neben viel "krass, was man alles machen kann" hinterlässt das Buch auch den Wunsch, selbst rauszugehen und etwas zu erleben. Es müssen ja nicht gleich 18.000 Kilometer sein.


Cape to Cape
Jonas Deichmann, Philipp Hympendahl, Tim Farin
Delius Klasing Verlag
29,90 Euro
160 Seiten
erschienen am 2. September 2020

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Freitag, 10. Juli 2020

Auf ne Pizza nach Hannover - 280 Kilometer mit dem Rennrad

2020 lässt mir nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Fehlen von Veranstaltungen mit dem Fehlen von Herausforderungen gleichsetzen und dem Schweinehund nachgeben - oder einfach halbwegs vorzeigbar fit bleiben und für spontane Schnapsideen wenigstens eine minimale Grundlage mitbringen. Ich teile meine Entscheidung nach Sportarten auf: Beim Laufen ist es ersteres, beim Radfahren letzteres.

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Ferdi, auch bekannt als Koootsch der Raketenstaffel und ich und Hannover.
Der Jahrestag meiner ersten und letzten Mitteldistanz spült mir Bilder und Erinnerungen in die Foto-App: Wasserstadt Limmer Triathlon 2017 in Hannover; zu viert waren wir aus Düsseldorf angereist, um die Mission Mitteldistanz um allerersten Mal zu vollbringen und "Mission Hannover" heißt noch immer der gemeinsame Gruppenchat. Damals vor drei Jahren war es für uns alle das erste Mal auf der Mitteldistanz, es war emotional, es war zauberhaft und im Rückblick schauen wir wahrscheinlich alle etwas verklärt auf diese eigentlich doch recht schnöde Stadt. Für uns war der Triathlon toll, das airbnb im abbruchreifen Hochhaus toll, die Gegend toll und die Pizza toll. Und das Tiramisu. Beim Betrachten der Fotos poppt dann aus der Laune heraus die spontane Frage auf:


Zwei Wochen später ist eine Übernachtungsgelegenheit gefunden (danke, Lisa und David!), die Zugtickets für die Rückfahrt sind gebucht, die Taschen gepackt, die Route geplant und um kurz vor 5 sitzen wir freitagsmorgens auf den Rädern. Los geht's von Düsseldorf nach Hannover, gut 280 Kilometer für eine Pizza und mindestens 27 Tiramisu.

Wir sind beide alles andere als Frühaufsteher, aber die grobe Kalkulation der Zeitplanung und das Schließen der Pizzeria um 22 Uhr lassen uns keine Wahl. Falls ich aus meiner 333-Kilometer-Tour an die Nordsee eines gelernt habe, dann ist es das: Wenn du den ganzen Tag Sport machen willst, ist vorher nicht schlafen das Blödeste, was du machen kannst. Ich schlafe also immerhin vier Stunden statt damals nur eine und verbringe den Rest der Zeit des Im-Bett-Liegens mit Sorgen machen: Schaffen wir das zu zweit? Wird der Leistungsunterschied zu groß sein? Überlebe ich die Höhenmeter? Ist die kurzfristig und daher etwas lieblos geplante Route Mist? Macht mein Hintern das mit? Ist der neue Sattel besser oder schlechter als der alte und war es eine dämliche Idee, vor wenigen Tagen noch an der Einstellung herum zu schrauben? Kommen wir rechtzeitig an, bevor die Pizzeria schließt? Wird die Pizza noch so lecker sein wie damals nach dem Triathlon?


Erste Worte beim Treffen um 4:44 Uhr: "Was für eine Scheiß-Idee!" Aber da die Rückfahrt bereits gebucht ist und wir uns jetzt schon mal aus dem Bett geschält haben, geht's wohl auch los. Von Düsseldorf führt uns die Strecke über Ratingen nach Essen, wo die ersten Höhenmeter auf uns warten. Bis es so weit ist, haben wir Langschläfer noch genug Gelegenheit, die völlig leeren Straßen und den Sonnenaufgang zu bestaunen. Beides allein schon wunderschön, aber in Kombination mit unserem großen Vorhaben, heute einfach mal bis Hannover zu radeln, ziemlich herrlich. Besser könnte der Start kaum laufen, und auch der erste Anstieg ist vertieft ins Gespräch schneller vorbei als vorher befürchtet. Cleverer Schachzug, den sich hoffentlich alle zukünftigen Mitfahrer merken: Maren ablenken, wenn's bergauf geht.

Da die Frage nach den Taschen immer wieder auftaucht: Bei nur einer Übernachtung brauchen wir nicht viel. Verpflegung für unterwegs, Wechselsachen für die Nacht und die Rückfahrt im Zug passen in die Oberrohrtasche von Birzman* sowie den Backloader von Topeak*. 
Nach Essen kommt Bochum, ungefähr so weit kenne ich mich auch noch aus, aber dann beginnt für mich Neuland. Castrop-Rauxel, Hamm, Beckum - bisher nur in den Staunachrichten schon mal gehört. Wir kratzen gerade an Dortmund vorbei, als mein Hinterreifen sich ein übertrieben großes Metallstück einfängt. Ich hatte schon etwa 400 Jahre keinen Platten mehr, so dass ich das eirige Gefühl erst nicht richtig einordnen kann, bis die Luft dann raus ist und kein Zweifel mehr besteht. Kacke. Der Fehler ist zum Glück schnell gefunden und der Schlauch gewechselt, aber genug Luft will nicht rein. Sie entweicht nicht sofort aus dem neuen Schlauch, aber so richtig rein will sie auch nicht. Ich meine, es könnte reichen, also rollen wir weiter. Der Reifen sieht das anders, es reicht nicht, wir müssen erneut halten und nachpumpen. Ich möchte nicht, dass unsere Tour nach 70 Kilometern schon zu Ende ist, wie traurig wäre das denn? Von Düsseldorf nach Dortmund und den Rest mit dem Zug? Na klasse. Wir haben das leicht krumme Ventil im Verdacht und würden am liebsten die Miniluftpumpe gegen eine schöne Standluftpumpe tauschen - aber woher nehmen morgens vor Öffnung sämtlicher Fahrradläden am Stadtrand von Dortmund? Die Lösung heißt schließlich Autowerkstatt, und zwar gleich zwei verschiedene. Die erste verkauft mir nach ausgiebiger Suche einen Adapter, um das französische Ventil auch an der Tanke aufpumpen zu können und die zweite Werkstatt hilft dann mit Geraderücken des Ventils und Druckluft nach. Endlich! Das Hin und Her kostet uns etwa eine Stunde und hatte meine Hoffnung auf eine Ankunft vor Ladenschluss der Pizzeria kurz geschmälert. Jetzt bin ich zuversichtlich, dass Ventil und Schlauch auch für die nächsten 200 Kilometer durchhalten. Den Ventil-Adapter* kann man beim nächsten Mal auch gleich von Anfang an einpacken.


Nach einem guten Drittel der Strecke haben wir bereits 500 Höhenmeter auf der Uhr - was so ziemlich genau 500 mehr sind als ich normalerweise fahre. Gut: Immerhin sind sie gleichmäßig über die ganze Strecke verteilt. Schlecht: Es kommen noch 1000.

In Stromberg müssen wir am Ortseingangsschild selbstverständlich für ein Foto anhalten. Als nächstes fahren wir durch Rheda Wiedenbrück und Gütersloh, gefühlt schon absurd weit weg von zuhause. Nur wegen der vielen Berichterstattung in der letzten Zeit kann ich ungefähr einordnen, wo wir sind. Wiedenbrück ist überraschend schön und in Gütersloh nerven die wobbelig gepflasterten Radwege so sehr, dass wir doppelt froh sind, als wir die Stadt endlich hinter uns lassen. Bielefeld liegt als nächstes auf der Route. Ich sorge mich um potentiell schlimme Anstiege im Teutoburger Wald, bekomme dank höhenmetervermeidender Routenplanung jedoch nur nervigen Stadtverkehr. Nicht viel besser.


Mittlerweile sind wir 170 Kilometer gefahren und es wird heiß. Die Stopps häufen sich. Zeit für die erste Tankstellen-Cola. In meiner Fantasie hört NRW kurz hinter Bielefeld auf, allerdings muss ich in der Realität verdammt lange auf die niedersächsische Landesgrenze warten. NRW hält allerdings noch Späße wie Bad Salzuflen (wer denkt sich denn so einen Namen aus?) und Vlotho bereit. Irgendwo zwischen hier und dort, die schmale Straße schlängelt sich gerade zwischen sehr grünen Hügeln entlang, treffen wir auf eine Gruppe Jugendliche auf Hollandrädern. Bierkiste hinten drauf, Musikboxen vorne und locker flockig zu "99 Luftballons" die Hügel rauf. So kann man auch ne gute Zeit haben. Fahrrad, Getränke, Musik, ab zum See, fertig. Wieso wollten wir nochmal unbedingt nach Hannover?


Porta Westfalica heißt wohl nicht ohne Grund so, aber Hauptsache ich muss erst 220 Kilometer bis hier hin radeln, um das festzustellen. Hier hört NRW also auf. Nach dem Ortsteil mit dem klangvollen Namen Eisbergen folgt der einzige halbwegs ernst zu nehmende Anstieg des Tages über das Wesergebirge. Klingt schlimmer, als es ist, denn es geht nie sonderlich hoch, aber immerhin mal drei Kilometer am Stück bergauf. Kenn ich nicht von zuhause, und kenn ich erst recht nicht mit 220 Kilometern und 1000 Höhenmetern in den Beinen. Auch hier funktioniert die Taktik Ablenkung wieder hervorragend, denn ich hatte zuvor bei der Routenplanung entdeckt, dass jemand ausgerechnet hier ein "Bänkle zum Verweilen" als Point of Interest markiert hat. Was kann also schief gehen?

Tatsächlich hält Eisbergen entgegen der Ankündigung weit und breit kein Bänkle zum Verweilen bereit. Einige Kilometer später finden wir glücklicherweise doch noch eines. Mit Schatten!
Es gibt Bergwerke und Schneisen aus kalter Luft, so dass die Abfahrt sich anfühlt wie ein Bad im Baggersee. Bevor noch jemand zu frieren anfangen kann, geht es glücklicherweise wieder bergauf. Der untere Rücken meldet sich so langsam und mit ihm die Erkenntnis, dass mir bisher nicht klar war, wie sehr man den Rücken besonders beim bergauf Radeln gebrauchen kann. Hoch und runter geht's bis Stadthagen "An der Bergkette" entlang. Die Straße heißt tatsächlich so und präsentiert sich dementsprechend idyllisch. Links der Blick auf die eher platte Landschaft (und den Kaliberg), rechts die "Bergkette", mittendurch schlängelt sich die Straße auf und ab. Wirklich schön!

Nicht mehr so schön ist es bei Kilometer 260 kurz hinter Bad Nenndorf, als ich ankündige, dass ich eine Pause brauche, und zwar jetzt sofort. Der Kreislauf schwächelt, die Hitze tut ihr übriges und ich muss einfach kurz im Schatten sitzen. Ich habe das Gefühl, dass es eher mit dem Zug oder Bus als auf dem Rad weitergeht, aber eine Cola und ein paar Cracker ändern meine Meinung. Es geht besser. Wir einigen uns darauf, langsam weiter zu rollen und auf den Radwegen zu bleiben. Sieben Kilometer später sind wir endlich in Stemmen, dem schönsten Dorf im Landkreis 1996, niemanden interessiert das - außer uns, denn wir befinden uns ab jetzt auf der Triathlon-Radstrecke und hatten auch vor drei Jahren schon unseren Spaß mit dieser stolz präsentierten Auszeichnung.


Der letzte Rest unserer Route führt uns weiter über die Triathlon-Strecke und ist heute nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Weißt du noch, genau hier saßen immer diese Zuschauer, dort war der Fotograf, dort die Verpflegung, und ach diese Abfahrt!


Endlich erreichen wir ein Ortsschild von Hannover, selbstverständlich halten wir für ein Foto an. Für die Reservierung in der Pizzeria sind wir sowieso schon etwas spät dran, jetzt kommt es auf die Minute auch nicht mehr an. Hannover! Angekommen! Ob sich darüber schon mal jemand so doll gefreut hat?

Die letzten zwei Kilometer durch die Stadt schaffen wir jetzt auch noch. Auf dem Weg liegt der Stichkanal Linden, Triathlon-Schwimmstrecke. Besser könnte das alles hier gar nicht zusammenpassen. Es ist schön, schon mal hier gewesen zu sein und noch schöner ist es, mit dem Fahrrad aus eigener Kraft zurück zu kehren. Heute morgen um 5 waren wir noch zuhause in Düsseldorf und jetzt sind wir hier. Wir sind wirklich da! Pizza gibt's auch noch und der Magen macht glücklicherweise auch wieder mit - nur fürs Tiramisu reicht's bei mir dann leider nicht mehr. Müssen wir wohl nochmal wieder kommen - vielleicht in drei Jahren, wenn die Foto-App mich an diese Tour erinnert?

Die Frage kam auch schon häufiger: Die fantastische Pizza gibt's bei Francesca & Fratelli. 
Das Wichtigste: Wir haben es vor Ladenschluss geschafft. Hier noch die Zahlen: 283 Kilometer, 1500 Höhenmeter, knapp 12 Stunden Fahrtzeit, 15,5 Stunden insgesamt. Das Beste: Am nächsten Tag auf dem Rad sitzen ist kein Problem - weder für den Rücken noch den Hintern. Der Sattel ist also approved!

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