Donnerstag, 12. Mai 2022
Birdrace - Vögel zählen auf dem Gravelbike
Ja, das Konzept ist absurd - wieso sollte irgendjemand Vögel um die Wette zählen? Naja - wieso denn nicht? Ich bin ja prinzipiell Fan von Dingen, die Menschen dazu motivieren, draußen Zeit zu verbringen, sich mit der Natur zu beschäftigen und sich im Idealfall noch zu bewegen. Wenn also eine Art Wettkampf den Ehrgeiz kitzelt und das dazu führt, sich mit verschiedenen Vogelarten, ihren Lebensräumen, ihrem Aussehen und ihren Rufen auseinander zu setzen, dann halte ich das für eine ziemlich gute Idee.

Das Kind braucht einen Namen
Ich bin deshalb jetzt also Teil eines Rennens, bei dem Teams wie Vollmeisen, Tigerente, Avifaunistische Aktion oder Uropa Epops Enkel (upupa epops = Wiedehopf) gegeneinander antreten. Selbstverständlich lassen die Teams bei ihrer Benennung kein Vogel-Wortspiel aus. Ich gründe ein eigenes Team, es heißt Gravelkrokos. Weil wir mit Gravelbikes fahren natürlich, und weil … wir eben keine Krokodile sind. Klar.Streckenplanung first, Vögel beobachten second. Vorteil am Kreis Mettmann: Er ist verdammt weitläufig. Nachteil am Kreis Mettmann: Er ist verdammt weitläufig. Es wirkt sinnvoll, so viele verschiedene Habitate wie möglich auf der Route unterzubringen und diese dann auch noch innerhalb von 24 Stunden komplett radeln zu können - denn hügelig ist es hier durchaus auch. Niederbergisches Land lässt grüßen.
Der Wecker klingelt um 6, ziemlich eklig für einen Samstag, aber es ist schließlich Raceday. Der Tag wird lang und ich frühstücke gut. Zu gut, wie sich am ersten längeren Anstieg herausstellt, denn beinahe hätten Brötchen und Waldboden sich näher kennengelernt. Uff.
Die Regeln
Es gibt etwas mehr als 300 Vogelarten in Deutschland, davon natürlich nicht alle im Kreis Mettmann, da wir leider keinen Zugang zum Meer und auch keine Alpen vor der Haustür haben. Trotzdem bleiben ganz schön viele Arten übrig. Es geht darum, in 24 Stunden so viele verschiedene freilebende Vögel wie möglich sicher zu bestimmen - entweder optisch oder akustisch. Das Ganze basiert auf Vertrauensbasis, klar. Ich kenne mich ein bisschen aus, aber nicht wahnsinnig gut. Es gibt verdammt viele kleine braune Vögel und mit Stimmen bin ich noch ziemlich ungeübt - egal, wenn's am Ende nur eine gute Radfahrt wird, war’s trotzdem ein guter Tag. 
Die ersten Häkchen kommen schon zuhause auf die Liste: Kohlmeise, Blaumeise und Amsel sind durchs Fenster schnell erkannt. Gut, das sind die Klassiker, die vermutlich jedes Team abhaken wird. Den Garten will ich mir als Joker für später aufheben, erst mal aufs Rad. Um kurz nach 7 sind die Straßen frei. Herrlich. Die Gravelkrokos haben keine Strategie, sondern besprechen sie unterwegs. Anhalten, wenn einer etwas sieht oder wenn ein Gebiet vielversprechend aussieht, ansonsten weiterfahren. Ok. Aus Angst, irgendetwas zu verpassen, fahren wir superlangsam, bis mir einfällt, dass gut 70 Kilometer in Schrittgeschwindigkeit dann vielleicht doch etwas zu lange dauern werden.
Rein ins Grün
Es geht rauf und runter, mitten durch die Felder. Schon kurz hinter dem Haus sehen wir Feldlerchen - und zu überhören sind die kleinen Alarmanlagen auch nicht. Doch da ist noch etwas anderes im Grünstreifen - eine App hilft bei der Bestimmung. Eine Dorngrasmücke! Die habe ich erst vor kurzem in Holland kennengelernt. Ich wusste gar nicht, dass wir Nachbarn sind!
Nach Feld und Wald kommt Wasser. Normalerweise interessiere ich mich recht wenig für Enten und Gänse, heute halte ich die Augen und Ohren offen. Ein Beat aus dem Schilf erregt Aufmerksamkeit: Ein Teichrohrsänger! Eine Pfeifente bringt noch etwas Abwechslung in die Entenrunde.
Vogel-Wunschliste
Langsam gehen die Überlegungen los: Was sehen wir heute noch mit Sicherheit? Wird irgendein für uns neuer Vogel dabei sein? Oder vielleicht sogar ein seltener? Ein Must-Have lässt ein wenig auf sich warten, aber dann: endlich ein Buchfink! Haken dran. Weil ich in letzter Zeit häufig Greifvögel beobachte, will ich auf keinen Fall nach Hause fahren, bevor wir nicht die beiden am einfachsten zu entdeckenden abhaken können: Mäusebussard und Rotmilan. Beides gelingt gleichzeitig auf einem Feldweg irgendwo bei Wülfrath. Check.Ich finde eine Bank und will eine Pause einlegen, bis mir der kleine gelbe Vogel im Bäumchen dahinter auffällt. Im Vorbeifahren hätten wir ihn übersehen. Hallo! Was bist du? Glücklicherweise hat dieser Vogel die Ruhe weg und lässt sich kein bisschen davon irritieren, dass wir direkt unter dem Baum stehen und über seine Merkmale diskutieren. Drei laut streitende Kinder platzen in die Szenerie; eines beginnt auf den Baum zu klettern, in dem sich der von uns immer noch nicht bestimmte kleine gelbe Vogel befindet. Na klasse, der wird jetzt die Biege machen - allerdings nur seelenruhig bis zum Nachbarbaum. Es stellt sich heraus, dass dieser coole Dude eine Goldammer ist. Die sehe ich tatsächlich zum ersten Mal, finde sie direkt mal richtig lässig und mache mit Freude einen Haken dran.

Wir kommen zu Grube 7, einem ehemaligen Kalksteinwerk, das heute Naturschutzgebiet ist. Hier leben allerlei Vögel, auch ein paar gar nicht so häufige wie der Steinschmätzer, daher verspreche ich mir von diesem Abstecher viel. Entweder verbringen wir hier zu wenig Zeit oder die Vögel sind gerade woanders - auf den Wanderwegen drum herum tummelt sich jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Ich kann den Zilpzalp langsam nicht mehr hören. Könnte der nicht endlich mal die Klappe halten, damit auch nochmal irgendwas anderes an meine Ohren durchdringen kann? Zilp zalp zalp zilp zalp zilp zilp zalp!

Die Sonne brennt, die Beine brennen auch, ich brauche eine Eispause. Der Eiskaffee fließt direkt in die Oberschenkel, Zucker regelt, zurück auf die Strecke. Im Morper Bachtal erwarte ich mehr Wander- als Fahrradmeter, weil es hier stellenweise schon mit dem MTB anspruchsvoll ist - aber egal. Die Gesamtzeit ist nicht wichtig, nur die Vogelarten zählen. Davon sollte es hier noch ein paar andere geben, Tümpel und Schilf lassen hoffen. Wünsche werden nicht erfüllt, keine Rohrammer, kein Schilfrohrsänger, aber dafür immerhin eine Schwanzmeise und ein Kuckuck, der uns noch eine Weile hinterher ruft.

Langsam wird es zäh. Der Blick auf die Uhr erklärt die Müdigkeit - wir sind schon einige Stunden unterwegs, in den Beinen stecken Kilometer und Höhenmeter, der Kopf ist permanent in Alarmbereitschaft. Es könnte ja ein Seeadler vorbeifliegen. Oder wenigstens ein Turmfalke. Beide sehen wir bis Ende des Tages nicht, was beim ersten nicht überraschend und beim zweiten ziemlich seltsam ist - wo seid ihr, Falken, wenn man euch braucht?
Endspurt
Kurz vor dem Ende wird aus Sonne und Hitze auf einmal Gewitter - natürlich genau oben auf dem Hügel, nur Felder rechts und links. Die Route sieht noch einen Umweg vor, ich sehe das anders. Direkter Weg nach Hause, bevor das Birdrace noch mit einem Blitzschlag endet. 66 Kilometer mit 850 Höhenmetern haben fast 10 Stunden gedauert. Die letzten beiden Vögel finden vom Küchenfenster aus ihren Eintrag in die Liste: Gimpel und Kernbeißer lassen sich wie zu erwarten noch im Garten blicken. Auf die Finken ist Verlass!In der Dämmerung halte ich extra nochmal die Ohren aus dem Fenster, aber weder der Waldkauz noch die Waldohreule haben an diesem Abend etwas zu sagen. So stehen am Ende 47 Vögel auf der Gravelkroko-Liste, was 2023 definitiv noch ausbaufähig ist. Was auf jeden Fall schon ziemlich solide ist: 850 Teams, 2500 Birdracer und 322 insgesamt gesehene Arten. Und fast 50 Prozent waren mit dem Rad unterwegs. Auch das dürfen nächstes Mal gerne mehr werden! Die Gravelkrokos planen schon mal ihre Strategie und legen so lange die müden Beine hoch.
Montag, 8. November 2021
Querfeldrhein - Cyclocross in Düsseldorf


Freitag, 16. Juli 2021
Orbit360 - Spin Spark: Ruhrgebiet rauf und runter
Bisher haben die Orbits mich nach Brandenburg und Hamburg geführt, aber eine Strecke habe ich auch vor der Haustür. Ich meine, wirklich direkt vor der Haustür - vom Wohnzimmerfenster aus kann ich sie sehen. Ich kenne viele Abschnitte der Route, einige Wälder davon seit 20 Jahren sehr gut, andere ein bisschen, aber fast überall bin ich schon mal gewesen. Niemals im Leben würde ich unter normalen Umständen auf die Idee kommen, in diesem Gebiet eine so lange und so hügelige Runde zu fahren, aber ... let's orbit!
Die Story zum Spin Spark Orbit kannst du dir auch als Podcast anhören, zum Beispiel bei Spotify, iTunes oder überall, wo es Podcasts gibt. In dieser Episode habe ich Nils Laengner zu Gast und spreche mit ihm über unseren Tag auf der Spin-Spark-Strecke. Jule Wagner, die Scouterin der Route, kommt auch zu Wort.![]() |
Foto: Nils Laengner |




Dienstag, 29. Juni 2021
Orbit360 - Marsian Mountains: Powered by Franzbrötchen durch die Lüneburger Heide
Es ist 6 Uhr morgens irgendwo auf einem Wanderparkplatz südlich von Hamburg. Kärntner Hütte heißt die Lokalität hier - wollen die mich eigentlich verarschen? Die Hamburger sagen, hier gibt es so was wie Berge, die Harburger Berge. Berühmt-berüchtigt und bei vielen gefürchtet stelle ich mich vor dem Start aufs Schlimmste ein. Ich habe Christine im Ohr, die mir netterweise einen Schlafplatz angeboten hat und die Strecke schon gefahren ist: "Am Anfang geht's direkt bergauf. Verlier nicht die Nerven, danach wird's besser! Wirklich!" Na schön. Wehe, das stimmt nicht!
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Falls du meinen ersten Artikel zum Spooky Sputnik Orbit verpasst hast oder dich fragst, was es mit der Orbit360-Sache überhaupt auf sich hat, schau mal hier vorbei.

Es stimmt, denn es wird schnell besser. Die Strecke ist fluffig und die ersten Kilometer wirklich einfach - ich beginne, den Scouter Anno unbekannterweise ins Herz zu schließen. Was man halt so macht, wenn man alleine unterwegs ist und sich noch nicht mal der Routenberechnungsfehler blicken lässt. Anno meint es gut mit uns Orbitern, er schickt uns über gut fahrbare Wege, die sich zu Beginn durch die Harburger Berge schlängeln. Ich denke darüber nach, wie bescheuert es eigentlich ist, an einem Mittwochmorgen um 6 Uhr irgendwo in der Pampa eine mehr als 150 Kilometer lange Strecke abzufahren, nur weil sie irgendeiner geplant hat. Wie absurd. Und was für ein Privileg es ist, das machen zu können. Spontan einen Tag freizunehmen und dem Körper zu vertrauen, dass er das schon nochmal schaukeln wird. Absurd ja - aber wie schön ist das eigentlich?
Rennserie bedeutet, nach einem Orbit ist nicht Schluss, sondern der Spaß geht erst so richtig los. Als zweite Strecke habe ich mir Marsian Mountains ausgesucht - 154 Kilometer und 1200 Höhenmeter durch die Lüneburger Heide. Genauso lang wie das Spooky Sputnik vor einer guten Woche, aber fast doppelt so viele Höhenmeter. Trotzdem bin ich nicht nur grandios schlecht vorbereitet, sondern auch ziemlich unaufgeregt. Hat ja einmal geklappt, wird auch wieder klappen. Vielleicht ein bisschen größenwahnsinnig, sich nach einem einzigen Orbit für eine Expertin in Sachen längere Gravelstrecken zu halten. Ich habe die Route nicht exakt studiert, habe mir keine Wasserstellen notiert und auch nicht explizit Erfahrungsberichte anderer Orbiter gelesen. Dass es sandig sein soll, habe ich gehört. Nun gut, das war's beim letzten Mal auch. Bisschen hügeliger jetzt eben. Wird schon werden!

Sich darauf vorzubereiten, wo sich Wasser nachfüllen lässt, ist tatsächlich nicht die allerschlechteste Idee. Praktischerweise nimmt mir Kathi Sigmund diese Aufgabe ab, indem sie mir am Vorabend den Tipp gibt, unbedingt schon in Hanstedt nach nur 40 Kilometern die Flaschen aufzufüllen, weil es dann bis Buchholz bei Kilometer 128 relativ mau aussieht. Ich befolge den Ratschlag und bin froh darüber - alles richtig gemacht. In Hanstedt komme ich auch direkt an einem Bäcker vorbei - Zeit für eine Pipipause und die beste Gelegenheit, die Essensvorräte aufzustocken. Ein Laugenbrötchen und ein Franzbrötchen wandern in die Lenkertasche. Geil!
Ich war noch nie in der Lüneburger Heide, aber ich habe sie mir so vorgestellt, wie sie mich heute empfängt: relativ menschenleer, mit feinen weißen Sandwegen, sanften Hügeln, einigen Birken, ein paar Rehen und Hasen, viel Weite und ein bisschen Wald drumherum. Schön. Zum Reiten würde ich gern nochmal hier her zurück kommen - auf echten Ponys, nicht auf Carbon-Ponys. Das gleiche dachte ich in der Uckermark auch schon. Wie ironisch, dass das nächste Orbit (Spin Spark) mich in mein bestens bekanntes Ausreitgebiet direkt vor meiner Haustür führen wird.

Ich habe euch auf Instagram gefragt, was euch zu Marsian Mountains interessiert und herausgekommen sind folgende Fragen:
Was hast du unterwegs alles dabei?
Verpflegung: zwei große Trinkflaschen, zwei Koffein-Gels und ein Riegel (habe weder die Gels noch den Riegel gegessen, aber besser haben als brauchen), eine Tüte getrocknete Mango. Dazu kamen das Franzbrötchen und ein Schokoriegel an der Tanke, das Laugenbrötchen habe ich nach dem Finish gegessen.
Klamotten: Windjacke, Armlinge.
Fahrradstuff: Schlauch, Luftpumpe, Reifenheber, Multitool, Fahrradschloss, Ventilaufsatz zum Aufpumpen an der Tanke.
Sonstiges: Sonnencreme, Sitzcreme, Geld, Handy, Garmin, Powerbank, Kabelbinder, Maske.
Nach dem kleinen Sturz im Sand beim ersten Orbit wollte ich eigentlich noch Sprühpflaster oder ähnliches einpacken, habe ich aber natürlich vergessen.

Was für Reifen fährst du?
Das Votec Testbike kam mit den Continental Terra Trail in 40 mm und tubeless. Die Breite ist möglich, weil wir auf die kleineren 650B Laufräder ausgewichen sind. Ich bin von meinem Crosser nur 35 mm gewöhnt und empfinde die Terra Trail als gleichzeitig super komfortabel und gut rollend - ich hatte zuletzt keine Schwierigkeiten, eine Rennradausfahrt komplett auf Asphalt mitzufahren.
Was für eine Übersetzung hat das Rad?
Das Votec VRC Evo hat eine 48/35 Kurbel und 10-33 Kassette. Ich weiß, da ist noch Luft nach oben - das werde ich spätestens beim nächsten wirklich hügeligen Orbit merken. Bei Spooky Sputnik und Marsian Mountains hatte ich damit überhaupt keine Probleme. An die elektronische Schaltung SRAM Force AXS habe ich mich schnell gewöhnt - auch wenn ich zu Beginn tatsächlich erst mal in die Anleitung schauen musste um zu begreifen, wie zur Hölle ich den Umwerfer bediene (mit beiden Schalthebeln gleichzeitig, wer soll da denn drauf kommen?!).


Gab's unterwegs Kaffee und Kuchen?
Nein, bis auf das während der Fahrt gemümmelte Franzbrötchen gab's keine Kuchenpausen. Jeder geht das anders an und ich habe nicht den Anspruch, super schnell zu sein - aber ich möchte wenigstens versuchen, die Pausenzeiten so gering wie möglich zu halten. In der Uckermark hat mir die Hitze einen Strich durch die Rechnung gemacht, dieses Mal habe ich nur 18 Minuten der Gesamtzeit nicht mit Fortbewegung verbracht - das find ich ganz solide.
Wie steht's um die Verfügbarkeit von Pipipausen?
Jeder Baum ist ein Klo ... Ich versuche, ein gutes Gleichgewicht von Wasser oben rein und unten raus zu finden - eine Pipipause gabs bei der Bäckerei bei Kilometer 40, das wars.
Gab's Schiebepassagen?
Nein! Ich hatte Glück, dass es am Vortag oder in der Nacht geregnet hatte - so war der Sand fest und fahrbar. Auch die etwas fiesen Stücke bergauf am Wilseder Berg und Brunsberg bin ich gut hochgekommen - aber mit Unterstützung der Witterungsbedingungen.

Wie kommst du mit so langen Strecken klar und wie motivierst du dich? Ist das zweite Orbit noch spannend, obwohl es nicht mehr neu ist?
Sehr gute Frage, vor allem die zweite habe ich mir unterwegs auch gestellt. Ich habe gemerkt, dass ich vor dem Start einerseits weniger aufgeregt war als beim ersten Mal und andererseits auch gar nicht gleich viel Bock hatte. Das fand ich schade, denn vor mir lag ein komplett freier, völlig aus der Zeit gefallener Tag in einer schönen Landschaft, die ich noch nicht kannte. Ich hab mich dran erinnert, dass ich das freiwillig mache, dass es meine Entscheidung ist und ich mir das so ausgesucht habe. Wenn beim nächsten Mal die Herausforderung wieder größer ist (Spin Spark - ebenfalls gleich lange Strecke, aber 2200 richtig ekelhafte Höhenmeter), werde ich vorher zu 100 Prozent sehr nervös sein und Schiss haben, das nicht zu schaffen.Unterwegs auf dem Marsian Mountains habe ich mich natürlich gefreut, dass es gut lief - die ganze erste Hälfte fiel mir wirklich leicht und war echt fluffig. Das Gefühl, mal ein bisschen flotter unterwegs zu sein und nicht nur am Boden zu kleben, hat Spaß gemacht und hat mich motiviert, weiter zu machen. Als es sich auf der zweiten Hälfte dann etwas gezogen hat, insbesondere ab Kilometer 130, war ich sozusagen Pot-committed: bereits zu viel eingesetzt, um jetzt noch auszusteigen. Zwischenziele helfen mir dann: Noch 2 Kilometer bis zum nächsten Abbiegen, nur noch X Kilometer, dann bleiben nur noch Y übrig, usw. Wenn's unterwegs doof ist, versuche ich mir oft vorzustellen, wie es mir hinterher gehen würde, wenn ich jetzt entweder aufhöre oder so richtig langsam bummele. Geht's mir körperlich wirklich schlecht und brauche ich eine Pause? Oder hab ich nur keine Lust mehr und würde mich später ärgern, nicht durchgezogen zu haben? Kann ich nachher vor mir selbst sagen: Naja, ich bin extra für ein Orbit nach Hamburg gefahren, aber nach 130 Kilometern gings nur noch geradeaus und der Weg war so rumpelig, da hab ich lieber aufgehört? Wohl kaum.

Ja. Meistens nicht laut, aber ich achte auf meine Gedanken. Wenn sie in eine negative Richtung abdriften ("Du eierst hier so langsam rum, andere können das viel schneller!"), versuche ich das so schnell es geht zu bemerken und abzustellen. Wenn es schwer wird, sage ich mir im Kopf bewusst Positives, ganz egal ob das in dem Moment stimmt oder nicht ("Du kannst das, du machst das super, du wirst hier gut hoch fahren!"). Selbstgesprächs-Klassiker: "Es dauert, so lange wie es dauert und es geht, so schnell wie es geht."
Zurück in die Heide. Die erste Hälfte ist rum und ich rechne vorsichtig hoch, dass ich insgesamt in unter 8 Stunden wieder am Ausgangspunkt sein könnte. Die Heidelandschaft ist mal weitläufiger und mal etwas waldiger, einmal geht es über einen hölzernen Pfad und ansonsten ist weit und breit nur Grün zu sehen. Und heller Sand. Meinen Weg kreuzen einige Rehe, Hasen und ein Nacktwanderer. Oben auf dem Wilseder Berg rolle ich an einem Orbiter-Duo vorbei und ärgere mich später, dass ich nicht angehalten habe. Aber die Zeit läuft und meine Freude darüber, den Berg hochgefahren und nicht gewandert zu sein, sorgt dafür, dass ich lieber schnell wieder runter düsen möchte, als oben dann doch zu halten.

Den zweiten Stopp hebe ich mir bis kurz vor Buchholz auf, weil eine Tankstelle direkt auf der Strecke liegt. Wasser auffüllen, Schokoriegel nachtanken. Weiter gehts. Ein bisschen asphaltierter Radweg, ein bisschen bergauf aus der Hölle mit der Wahl zwischen Pest und Cholera (Kopfsteinpflaster oder grober Schotter), dann wartet der nächste Wald. Mein oben angekündigter Tiefpunkt kommt bei Kilometer 130, als das Navi mir anzeigt, dass es für sechs langweilige Kilometer geradeaus geht und der Weg jetzt nicht gerade vom feinsten ist. Eher so im Gegenteil. Betonplatten reihen sich aneinander und allerhand Zeug liegt darauf. Sechs Kilometer! Nur geradeaus! Warum?! Irgendwann sind es noch fünf, aber sie werden nicht weniger, dieser Weg will mich verarschen, oder das Garmin, und Anno - bis eben fand ich dich nett! Ich stelle die Ansicht auf dem Navi um, so dass ich weder die bereits gefahrenen Kilometer sehe, noch die Distanz bis zur nächsten Abbiegung. Wer sechs Kilometer geradeaus fährt, hat auch Zeit für ein kleines Video - gehen immerhin auch ein paar Sekunden vorbei.

Kaum zu fassen, aber irgendwann kommt auch endlich die nächste Abbiegung, und noch ein Stückchen später gehts auf Asphalt durch ein Wohngebiet bergab und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Wie fliegen. Das Vergnügen ist kurz, denn schon bald gehts im Wald wieder bergauf, aber mir ist alles egal, denn gleich ist es geschafft. Ich darf mir wieder die Strecke angucken: Noch 10 Kilometer, noch 5. Dann kommt der Startpunkt in den Kartenausschnitt. Nur noch bis da hin zurück! Das kleine Stück! Freundlicherweise geht es nicht nur hoch, sondern auch nochmal runter. Nach 8:33 Stunden: geschafft!
Ein weiteres Orbiter-Duo trifft fast zeitgleich mit mir am Parkplatz ein - schöner Zufall mitten unter der Woche die exakt gleiche Zeit zu erwischen. Jetzt ist die Gelegenheit, kurz zu plaudern. Mit Blick auf mein Auto kommt die Frage, ob ich extra aus Düsseldorf angereist sei, das sei ja ein Einsatz. Jo Freunde.. wer nicht gerade in Hamburg wohnt, hat in diesem Jahr nicht drei bzw. vier Orbits direkt vor der Tür und muss etwas weiter fahren. Könnte sich für NRW 2022 möglicherweise ändern :)
Zweites Orbit: check!

Donnerstag, 17. Juni 2021
Orbit360 - Spooky Sputnik: Wälder, Seen, der Routenberechnungsfehler und ich
Ich bin da in etwas hinein geraten. Es ist eine komische Bubble, in der ich mich dabei ertappe, völlig unironisch Sätze zu sagen wie: "150 Kilometer und 700 Höhenmeter? Das ist eine der kurzen und einfachen Strecken." Oder: "Ich hab ein Kilo gekochte Kartoffeln in der Fahrradtasche." Ja klar. Ich hatte bei meinem ersten Orbit zwar keine Kartoffeln dabei, aber dafür zwei Stücke Pizza vom Abend zuvor.
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Orbit? Was ist das?
Orbit360 ist eine Gravel-Rennserie, bei der es in diesem Jahr 18 Routen gibt, die querfeldein jeweils 150 bis 200 Kilometer im Kreis führen. An Höhenmetern ist von 500 bis mehr als 4000 auch alles dabei. Die Bodenbeschaffenheit vermeidet Asphalt größtenteils und hat stattdessen alles zu bieten, was es zwischen Schotter, Waldwegen, Sand, Wiese und Geröll so gibt. Für jedes gefinishte Orbit innerhalb von 10 Wochen gibt es Punkte, die schnellsten 30 Fahrer:innen bekommen Extrapunkte und wer mehr Orbits schafft, bekommt auch noch Serienpunkte. Ich hatte letztes Jahr schon große Lust, mir die NRW-Strecke in der Eifel anzutun, habe mich dann aber mangels geeigneten Rades dagegen entschieden. Dieses Jahr haben Orbit360 und Votec den oder die Super Orbiter:in gesucht und mit einem Testrad gelockt, das für die Dauer der Serie zur Verfügung gestellt wird. Ich hab mich beworben und mir eine doofe Geschichte dazu ausgedacht: Mit meinem alten Crosser bräuchte ich gar nicht starten, da könnte ich auch gleich zu Fuß gehen - was ich auch tun würde, wenn ich das Votec für die Orbits gewinne. Nun, ich werde dieses Jahr noch eine lange Wanderung machen müssen. Entweder haben mich viele Leute gern und gönnen mir ein tolles Rad für ein paar Wochen, oder sie wollen mich leiden sehen. Oder beides.

Die Vorbereitung
Nennenswerte Radfahrten im letzten halben Jahr: Eine Woche #Festive500 zwischen den Feiertagen und dann Orbit #rideFAR 180 Kilometer im März. Auf der Straße. Ansonsten hier und da mal ein bisschen, aber nichts, was man im Entferntesten als Training bezeichnen könnte. Wieso? Schweinehund, Wetter, noch keine Routinen am neuen Wohnort, dies das. Aber jetzt: Endlich ein Ziel. Oder mehrere. Orbits finishen. Lange Strecken kenne ich auf Asphalt, aber nicht im Gelände. Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt, so ein richtiger Rookie zu sein und keine Ahnung zu haben, was man da eigentlich genau tut - aber jetzt weiß ichs wieder. Ich habe ordentlichen Respekt vor so vielen Kilometern und Höhenmetern und der Zeit und Kraft, die das alles bei ruppigen Untergründen kostet. Blöderweise bin ich aktuell wirklich ziemlich untrainiert und fühle mich auch genauso. Bleibt nur ein Ausweg: Mut zur Langsamkeit.
Das neue Pony ist also hier eingetroffen und so wagen das Votec VRC Evo und ich einen ersten Ausflug in den Orbit-Kosmos. Was für eine organisatorische, vor allem logistische und zeitliche, aber auch finanzielle Herausforderung hinter einer über ganz Deutschland verteilten Rennserie steckt, wird mir spätestens bei der Planung meiner Starts dann auch klar. Ein glücklicher Zufall will es so, dass ich eine Mitfahrgelegenheit von Düsseldorf nach Templin finde - sonntags hin, montags zurück. Kurz durchrechnen, ob die Abfahrtszeit machbar ist oder ob ich mich gleich beim ersten Start mit einem engen Zeitfenster zu sehr unter Druck setze, aber: 12 Stunden brutto sollten machbar sein und noch Zeit für eine Dusche lassen.

Essen ist wichtig!
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie lange ich wirklich für 152 Kilometer im Gelände brauche und auch nicht, wie ich mich währenddessen verpflege. Ich packe folgendes in die Taschen: zwei Riegel, zwei Koffein-Gels, zwei Tüten getrocknete Mango (bei #rideFAR hatte ich eine verspeist und denke jetzt: viel hilft viel) und einen Apfel. Weil vom Abendessen noch Pizza übrig ist (seriously!), wickele ich mir die beiden Stücke auch noch in Wachstücher und hoffe, irgendwann wird der Moment kommen, an dem ich nichts Süßes mehr will und mich darüber freue. Die Kartoffel-Philosophie sozusagen. Als Start lege ich 5 Uhr morgens fest, damit ich pünktlich zur Rückfahrt wieder da bin. Um kurz vor halb 6 komme ich an meinem selbstgewählten Startpunkt auf der Route an. An einem Montagmorgen um diese Zeit sind keine Menschen unterwegs, aber dafür ein Fuchs. Ich halte die Augen offen, weil ich gehört habe, dass es auch Wölfe und Seeadler in der Gegend geben soll - gesehen habe ich nichts davon.
Die Uckermark besteht aus Kiefernwäldern und Seen. Die ersten Stunden fühlen sich magisch an: die großen, schlanken Bäume, Nebel über Feldern und Wasser, völlige Einsamkeit und Stille bis auf Vogelgezwitscher und Fahrradgeräusche. Ein Kuckuck ruft, Silhouetten von Kranichen zeichnen sich auf dem Feld ab. Ganz und gar nicht meine Uhrzeit, aber ich spüre keine Müdigkeit. Generell sind Tage, an denen man solche Vorhaben wie Orbits angeht, irgendwie aus der Zeit gefallen. Klar ist das hier eigentlich ein Rennen und klar steht meine Gesamtzeit am Ende in einem Ranking, aber in erster Linie fahre ich ja, um anzukommen. Um herauszufinden, wie 152 Kilometer in der sandigen Uckermark sich so anfühlen. Wie es ist, wenn ich so lange mit mir selbst alleine bin, wann ich mir auf den Keks gehe und wie ich damit umgehe. Es ist ziemlich schön, einen Tag lang nichts anderes im Kopf zu haben als Fortbewegung und Verpflegung.


Die liebe Technik
Was mir zuerst auf den Wecker geht, ist das Sitzen. Die Hose ist erprobt, sie hat schon 280 Kilometer auf dem Rennrad mitgemacht. Den Sattel fand ich bei meinen kurzen Testfahrten in Ordnung und so dachte ich: Sitzcreme regelt. Turns out: Sitzcreme regelt gar nichts, schon nach 12 Kilometern muss ich sie neu auftragen. Uff. Wenn das so weitergeht, wird der Tag lang und schmerzhaft. Die Technik bietet ebenfalls Potential für Aufreger: Ich habe die Route aus der Komoot-Collection heruntergeladen und navigiere mit einem Garmin 1000. Eigentlich. Wenn da nicht der Routenberechnungsfehler wäre. Der wird mir nämlich alle paar Sekunden angezeigt, woraufhin ich ihn wegdrücke, um dann wieder die Route zu sehen. Manchmal wandert die Karte nicht schnell genug weiter, oft weiß das Gerät nicht, wo ich gerade bin, manchmal habe ich wegen ruppigem Boden auch einfach keine Hand frei, um aufs Display zu tippen und den Fehler zu entfernen.
Noch nie war ein Routenberechnungsfehler so hartnäckig. Von Zeit zu Zeit kommt einer, dann geht er wieder. Dieser hier bleibt. Spätestens alle 30 Sekunden ist er wieder da. Ich mag ihn nicht. Ich möchte, dass er verschwindet. Nach 50 Kilometern beginne ich zu akzeptieren, dass er nicht weggehen wird. Er wird mich begleiten, und anstatt mich darüber aufzuregen, freunde ich mich mit ihm an. Der Routenberechnungsfehler und ich, wir machen das hier heute zusammen.

Hin und wieder gesellt sich noch eine Streckenabweichung dazu. Ich mag sie noch weniger. Sie ist echt nervig, aber nun gut, sie ist nun mal da. Ich verpasse Abzweigungen, weil ich den Fehler zu spät wegdrücke oder weil die Karte nicht nachlädt oder das GPS ungenau ist. Anhalten, umdrehen, weitermachen.
Ich verstehe irgendwann, dass Sitzprobleme und Fehlermeldung wegdrücken zusammenhängen, weil ich alle paar Sekunden nur eine Hand am Lenker habe und das Gewicht verlagere. Ich creme nochmal ordentlich nach und versuche darauf zu achten, beim ständigen Tippen aufs Navi nicht zu sehr hin und her zu rutschen. It's magic: Keine Schmerzen mehr ab der Freundschaft mit dem Routenberechnungsfehler und selbst am Ende der Tour keine Wehwehchen an sensiblen Stellen zu beklagen.
Langsamkeit aushalten
Was ich am Rennradfahren liebe, ist, dass man sich fast mühelos schnell fortbewegen kann. Beim Crossen oder Graveln liebe ich es, mitten in der Natur zu sein, aber ich kämpfe echt damit, mich an die Langsamkeit zu gewöhnen. Mit 10 km/h über einen Waldweg zu eiern ist einfach so weit entfernt von der Art von Radfahren, an der mein Herz hängt. Und immer dann, wenn es gerade mal ein bisschen besser und zügiger rollt, kommt neuer Sand daher. Danke Brandenburg.
Ich versuche, Zwischenzeiten hochzurechnen. Wie lange wird es dauern, wenn ich so langsam weiterfahre? Die Überlegung beruhigt mich in keiner Weise, also fahre ich einfach. Ich freue mich über Einsamkeit, Bäume, Wasser, Vögel, Rehe, Hasen. Über den Abstecher auf einen alten russischen Militärflughafen - Spooky Sputnik, I feel you. Über einen flowigen Trail direkt an der Havel. Über eine Eisdiele, obwohl ich gar keine Pause machen wollte. Aber Hitze und eine verpasste Möglichkeit, Wasser nachzufüllen, zwingen mich zur Pause. Mein Mund fühlt sich so trocken an, dass ich kaum schlucken kann - da muss definitiv ein Eis rein. Und Cola. Und mehr Wasser. Während es beim Start heute Morgen noch 8° waren, sind es jetzt 29°.

Finish
Das bisschen Zivilisation in Fürstenberg liegt schnell hinter mir, schon führt die Route mich wieder in den Wald, wieder über holprige Wege und so langsam wird es wirklich zäh. Ich zweifle nicht daran, anzukommen. Was hätte ich auch für eine Wahl? Der Handyempfang ist gleich Null, Bahnhöfe sind eher spärlich gesät und außerdem bin ich ja nicht in die Uckermark gefahren, um aufzuhören, wenn es ein bisschen anstrengend wird. Der Rücken will hin und wieder mal gedehnt werden, aber abgesehen davon geht es mir gut. Vor einigen Kilometern, als ich bis zu den Knöcheln im Sand gesteckt habe (und einmal unfreiwillig auf dem Rücken lag und mir den Wald von unten angesehen habe), da habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als Asphalt. Ein Rennrad und stumpf geradeaus. Kopf aus und gib ihm. Mein Wunsch wird erfüllt, nach ungefähr 135 Kilometern bin ich auf einmal auf einer zauberhaften Fahrradstraße und kann mein Glück kaum fassen. Es rollt von selbst! Wie fliegen! Ohne Anstrengung! Ich realisiere langsam, dass ich es bald geschafft habe und bekomme Lust, nochmal ein wenig reinzutreten. So muss sich das anfühlen!
Ich feiere die Wahl meines Startpunktes, der mir den schönsten Radweg zum Ende beschert hat - und dafür die anstrengendsten Teile der Strecke direkt zu Beginn. Und dann - nach 152 Kilometern, 10 Stunden und 20 Minuten, bin ich wieder am Start angelangt. Hier war ich heute Morgen schon mal - fühlt sich an, wie in einem anderen Leben. Ein Tag, an dem die Zeit still steht, obwohl sie die ganze Zeit läuft. Erstes Orbit: check!

Samstag, 30. November 2019
Raceday No. 78 - Berlin Marathon 2019

Ich muss zugeben, dass ich bisher wenig Respekt vor richtig langen Marathon-Zeiten hatte. In acht Stunden 42 Kilometer walken kann theoretisch jeder gesunde Mensch mit zwei Beinen, es macht halt nur kaum einer. Dauert ja auch einfach ewig. In Berlin ist mir ein bisschen klarer geworden, was es eigentlich bedeutet, wenn es schon früh nicht gut läuft und man früh merkt, das wird heute lange dauern. Sehr lange. Und was es dann doch für eine Leistung ist - vor allem eine mentale - diese Ziellinie zu erreichen.
Dieser Abschnitt ist leicht falsch zu verstehen. Ich meine damit nicht, dass ein Marathon erst ab einer bestimmten Zeit "etwas zählt". Ich will damit auch nicht sagen, dass ich körperlich in Berlin nichts geleistet hätte. Ich will einfach darauf hinaus, dass etwas, was im ersten Moment verhältnismäßig einfach wirkt (nämlich lange gehen oder sehr langsam laufen), dann doch gar nicht mehr so einfach ist, wenn man sich die ganze Dauer vor Augen führt. Fünf, sechs, sieben oder gar acht Stunden. Das muss man schon ziemlich wollen.

Ich hatte mir 2018 mit dem Inlinemarathon den Startplatz für den Lauf gesichert. Also keine Lotterie, sondern sicherer Startplatz, bezahlen muss man dann natürlich zweimal. Egal, once in a lifetime. Seit ich in Berlin das erste Mal zugeschaut hatte, wollte ich dort laufen. Die Atmosphäre ist besonders, die Strecke toll, der Zieleinlauf durchs Brandenburger Tor schwer zu toppen. 125 Euro Startgebühr sind ziemlich happig, aber günstiger wirds in den nächsten Jahren wohl kaum, daher dachte ich: Jetzt oder nie. Ich habe lange überlegt, ob ich mich wirklich in diesem Jahr anmelden will, weil die Voraussetzungen für ein Marathontraining durchaus besser sein könnten als in den letzten beiden Semestern des Studiums. Klausurphase und Abschlussarbeit, dazu noch ein fast vierwöchiger Urlaub und überhaupt Training im Sommer. Viele Gründe, die dagegen gesprochen haben, aber schließlich hat das Herz sich durchgesetzt. Ich wollte laufen.

Das einzig Gute, wenn man schon vorher weiß, dass der Zeitpunkt nicht ideal ist: Keine Gelegenheit, um hohe Erwartungen entstehen zu lassen. Trotzdem schwierig, das im Kopf umzusetzen, wenn man generell dazu neigt, sich zu viel Druck zu machen. In Berlin klappt das. Das erste Mal ans Aufgeben denke ich nach 15 Kilometern. Danach immer wieder. Mein Deal mit mir selbst geht so: Ich laufe bis Kilometer 33, dort steht meine Freundin Steffi. Dann kann ich mit ihr zusammen nach Hause fahren. Bei Kilometer 31 oder 32 wird mir dann klar: Wenn ich es bis hier hin geschafft habe, schaffe ich es auch bis ins Ziel. Ich habe keine Beschwerden, die groß genug sind, um auszusteigen. "Es läuft einfach nicht", reicht nicht.
Ein Läufer vor mir fängt unheimlich schief an "With or without you" von U2 zu singen. Eine andere Läuferin stimmt ein. Ich singe nicht mit, weil ich froh bin, gerade genug Luft zu bekommen. Für ein Grinsen reicht es noch. Was für ein Moment! "I can't live with or without you ..."

Auf dem Kudamm entschließt Steffi sich spontan, mich ein gutes Stück zu begleiten. Ich habe mich mittlerweile so sehr mit der Situation angefreundet, dass ich ihr freudig mitteile, dass es heute leider scheiße läuft und länger dauern wird. Ich weiß, dass die letzten 9 Kilometer noch lang werden können, aber es ist mir jetzt egal, wie lange sie noch dauern. Ich laufe, wenn ich kann, und ich gehe, wenn ich muss.
Die letzten Kilometer kenne ich schon vom Skaten im letzten Jahr und vom Halbmarathon im April. Es ist aber doch etwas anderes, gegen Ende des Marathons auf Unter den Linden abzubiegen. Die Menschenmengen, das Brandenburger Tor, all dieser Lärm. "Ihr seid alle Helden" meint ein Werbebanner. Kopfsteinpflaster, nur noch wenige Meter. Die Ziellinie ist in Sichtweite. Nach 4:47 Stunden laufe ich endlich darüber. Mein dritter Marathon ist zugleich der langsamste. Es ist mir egal. Ein anderes Schild sagt: "Strangers are proud of you". Ich bin es auch.

Dienstag, 16. Oktober 2018
Raceday No. 65 - Münsterland Giro 2018

Der Start aus Block A hingegen könnte ein Vorteil sein - wenn man ihn denn nutzen würde. Wer allerdings zu spät kommt und sich hinten einreiht, hat nicht so wahnsinnig viel davon. Wer dann noch so übermütig ist, auf den ersten zehn Kilometern alle Körner zu verpulvern und ganze Gruppen im Alleingang zu überholen - der darf sich nicht wundern, wenn er an der ersten mikroskopisch kleinen Bodenwelle abgehängt wird. Tschüss!
Für die ersten zehn Kilometer verkündet das Garmin einen Schnitt von 39 km/h. Das ist für mich ziemlich flott. Im letzten Jahr konnte ich das gleiche Tempo auf den ersten 30 Kilometern halten - allerdings waren die auch komplett flach und ich wenigstens ansatzweise im Training. Beides kann ich dieses Jahr nicht wirklich behaupten. Trotzdem wäre es ja gelacht, wenn ich nicht wenigstens versuchen würde, schnell zu sein.

Ich versuche es. Wirklich. Aber es geht nicht. Und es tut weh. Und ich kann das heute nicht aushalten. Das ist der Nachteil, wenn du vorne startest und zu langsam bist: Wenn du alle ziehen lassen musst, bist du ziemlich schnell allein. Nicht so gut fürs Ego, nur überholt zu werden und niemanden zu überholen. Und dann 20 Kilometer warten zu müssen, bis die ersten aus Block B vorbei ziehen. Natürlich zu schnell - die sind ja nicht umsonst die Spitze ihrer Startgruppe.
Auf die Berge (ja, Berge! Es heißt Baumberge und nicht Baumhügel!) hatte ich mich tatsächlich gefreut. Ich erinnere mich noch gut, wie magisch das hier oben vor zwei Jahren im Nebel war. Dieses Mal fehlt mir der Zauber, als ich völlig allein kurbele und kurbele und kurbele, um irgendwann mal oben anzukommen. Statt Nebel gibt es heute Sonnenblumen, die von der Sonne ganz traumhaft angeleuchtet werden. Fantastisch. Ich sterbe. Oben lese ich noch drei weitere Berg-Elefanten auf. Wir verbünden uns.

Ich fahre vorne, drei Mann hinter mir. Als ich nach einer Weile merke, dass trotz meiner Zeichen niemand Anstalten macht, mich in der Führung abzulösen, stattdessen hinter mir aber munter geplaudert wird, stelle ich die Arbeit ein. Prompt kommt der Vorschlag, man könnte ja kreiseln. Ach was! Wie innovativ. Leider verfolgen die drei dabei ein anderes System, als ich es kenne: Anstatt dass der erste sich beim Führungswechsel rausfallen lässt und sich hinten wieder einreiht, soll der letzte an allen vorbei fahren und die Spitze übernehmen. Ich boykottiere diese Taktik.
Endlich sind von hinten wieder Geräusche zu hören: Eine weitere Welle aus Block B rauscht heran und spült zufällig Jan mit sich, den ich direkt beim Start verloren hatte. Endlich sind wir eine große Gruppe, endlich nehmen wir ein vernünftiges Tempo auf und endlich kann ich mal kurz in Ruhe atmen - ohne Panik, das Hinterrad vor mir sofort wieder zu verlieren. An einer engen Kurve passiert es natürlich trotzdem - tschüss Jan, tschüss schöne Gruppe!
Eben hat mir netterweise jemand verraten, dass noch ein kleiner Stich auf der bis hier hin wirklich schönen Strecke liegt. Ich male mir die wildesten Anstiege aus, aber in Wahrheit ist es ein recht harmloser Hügel - dieses Mal tatsächlich. Ich will wieder an die Gruppe ran kommen und gebe alles dafür, um die Lücke wieder zu schließen. Ich fürchte fast, dass ich aufgeben muss, als von hinten Unterstützung naht. Wir holen nicht nur auf, sondern rauschen direkt an der Gruppe vorbei, tschüss Jan!

Es geht nur noch geradeaus, die Straße ist breit, wir halten das Tempo hoch. In Münster selbst nehmen die üblichen drei Kurven nochmal Geschwindigkeit raus. Auf einmal habe ich Jan wieder neben mir. Er fährt heute sein erstes Radrennen, hat seit wenigen Monaten überhaupt erst ein Rennrad. Wir hatten vereinbart, nicht zusammen zu fahren, aber jetzt überqueren wir die Ziellinie zufällig auf die Sekunde genau gleichzeitig: Nach 1:54:34 Stunden.
Mit Platz 31 gesamt und 12 in der AK ist das mein bisher schlechtestes Ergebnis in Münster. Dazu mit 34 km/h im Schnitt auch das langsamste Rennen. Nun. Du kannst nicht immer einen super Tag erwischen. Eine weitere Lektion, die mir gar nicht so gut schmeckt: Du kannst auch nichts erwarten, wenn die letzten Wochen mit arbeiten, studieren, krank sein und faul sein verbracht hast, anstatt auf dem Rad zu sitzen. Auch wenn meine Laune an diesem Feiertag gar nicht so feierlich war: Zum traditionellen Abschluss der Rennradsaison schmecken die Nudeln auf dem Münsteraner Schlossplatz auf jeden Fall am besten. Bis zum nächsten Jahr!

Der Startplatz für den Münsterland Giro wurde mir kostenfrei zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Dienstag, 2. Oktober 2018
Raceday No. 64 - BMW Berlin-Marathon Inlineskating

Wie vor dem ersten Radrennen - das 2016 übrigens auch in Berlin war - frage ich mich kurz vor dem Start, ob das alles wirklich eine gute Idee ist. Anders als beim Laufen hängt meine Sicherheit auf der Strecke nicht nur davon ab, ob ich über meine eigenen Füße stolpere, sondern auch davon, was die anderen um mich herum so machen. Genauso könnte ich selbst mit einem Sturz jemanden gefährden, eine Kurve nicht kriegen, mit irgendwem zusammenstoßen. Bumms. Wie schon beim Radrennen male ich mir sämtliche Szenarien vorher aus - mit dem Unterschied, dass ich weitaus besser radfahren als inlineskaten kann. Nun. Ich habe mir das so ausgesucht, also hielt ich den Plan Inline-Marathon anscheinend mal für eine gute Idee.
Das war im Juni. Rollerblade hatte mir den Macroblade 110 3WD zur Verfügung gestellt und ich war von Anfang an angefixt. Die großen Rollen machen Spaß, ermöglichen ziemlich mühelos eine angenehme Geschwindigkeit und schlucken auch schon mal kleine Unebenheiten weg. Trotzdem war mein Training eher minimalistisch. Die längste Strecke war 28 Kilometer lang. Anders als ich es vom Laufen kenne, habe ich nicht mehrere 30er absolviert, sondern bin hin und wieder ein bis zwei Stunden durch die Gegend gerollt, hauptsächlich um mich an das neue Sportgerät zu gewöhnen. Manchmal alltägliche Wege, manchmal Radstrecken. Ob ich mich gut vorbereitet fühle? Nicht wirklich.

Das Kribbeln vor dem Start erinnert mich daran, warum ich das mache. Genau dafür. Erste Herausforderung: Nicht über die Matte für die Zeitmessung beim Start stolpern. Check. Noch eine Parallele zum Radrennen: Mit den ersten Metern nach dem Startschuss ist die Unsicherheit wie weggeblasen. Die Straße ist breit und es ist nicht so voll wie befürchtet. Ich habe ziemlich schnell ein Gefühl, wie das hier funktioniert und durch welche Lücken ich mich durch wieseln kann. Und das wichtigste: Es ist gar nicht schlimm! Ich habe keine Angst.
Stattdessen verliere ich schon auf den ersten Kilometern meine Begleitung, weil mir der Gedanke nicht in den Sinn kommt, dass ich tatsächlich schneller sein könnte. Als plötzlich das Schild für Kilometer 10 auftaucht, realisiere ich, dass ich schon viel mehr Strecke als gefühlt zurück gelegt habe und immer noch alleine bin. Ich richte mich darauf ein, dass das so bleibt, wenn ich nicht warten will. Will ich nicht. Ich will das hier so schnell schaffen, wie es Spaß macht und wie ich heute kann.

Freunde stehen schon eine halbe Ewigkeit am Strausberger Platz, nur um mir einmal kurz zuzujubeln, während ich schnell vorbei husche. Ich hätte nicht gedacht, dass heute überhaupt schon Zuschauer da sind - natürlich ist die Stimmung am Streckenrand nicht mit der am Marathon-Sonntag zu vergleichen, aber ich bin überrascht, wie viel dann doch schon los ist.
Im Gegensatz zum Lauf-Marathon ist so ein Inline-Marathon wunderbar kurzweilig. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie schnell ich über die Distanz fahren kann und ich habe auch keine Uhr, um den Überblick zu behalten. Also fahre ich einfach und wundere mich über die Kilometer-Schilder. Was, schon Halbmarathon? Geil!
Im Windschatten bin ich bisher noch nicht so richtig gefahren, weil einfach niemand in der Nähe ist, mit dem die Geschwindigkeit passt. Ich überhole viel und werde auch überholt, manchmal von ganzen Zügen, die aufgereiht in gleichen Trikots hintereinander her rollen. Mit einem dieser Züge liefere ich mir ein kleines Rennen im Rennen, wir überholen uns immer wieder gegenseitig. Zum Glück ist die Strecke breit genug und bis auf wenige Ausnahmen macht der Fahrbahnbelag auch Spaß. Irgendwo nach Kilometer 30 geht es eine Zeit lang leicht bergab und der Asphalt rollt ganz wunderbar. Herrlich!

Am Potsdamer Platz werden mir mehrere Sachen gleichzeitig klar: Es ist gleich schon vorbei. In einem Jahr läufst du hier lang. Hier stehen verdammt viele Leute am Rand, die dich anfeuern, als würdest du heute schon einen Marathon laufen. Ich nehme den freudigen Kloß im Hals die nächsten Kilometer mit und trage ihn bis zum Brandenburger Tor. Das Abbiegen auf Unter den Linden, wobei das Brandenburger Tor zum ersten Mal in Sichtweite kommt, ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe: Gigantisch. So viel Freude, Dankbarkeit und Erleichterung auf einmal. Unbeschreiblich. Da ist es auch egal, dass die letzten Meter auf den Pflastersteinen nicht mehr so gut rollen. Was für eine Zielgerade!

Zu den Zahlen: Ich hatte gedacht, den Inline-Marathon unter zwei Stunden zu finishen, wäre schön. Währenddessen hatte ich keinen Überblick über meinen schönsten und konstantesten Marathon: Exakt eine Sekunde war die zweite Hälfte langsamer als die erste. Insgesamt haben die 42,195 Kilometer 1:47:35 Stunden gedauert. Macht einen Schnitt von 23,5 km/h, womit ich fürs allererste Mal inklusive Erkältung definitiv mehr als zufrieden bin.
Und nun? Fest steht: Ich komme wieder. Der Lauf-Startplatz für 2019 ist dank des Finishs beim Berlin-Marathon Inlineskating schon jetzt sicher. Ich möchte aber definitiv nochmal inlineskaten, weil es mir wahnsinnig viel Spaß gemacht hat. Direkt am Vortag muss es nicht sein, Berlin kommt also erst 2020 wieder in Frage. Ansonsten gibt es leider nicht mehr allzu viele Inline-Marathons. Duisburg habe ich auf dem Schirm, die Lieblingsstadt Madrid steht auch weit oben auf der Wunschliste ... Ich fange schon mal an zu sparen und baue auf dem Weg dahin vielleicht den einen oder anderen Inline-Halbmarathon ein.

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Rollerblade entstanden. Die Inlineskates wurden mir kostenfrei zur Verfügung gestellt. Vielen lieben Dank!
Mittwoch, 8. August 2018
Raceday No. 60 - Rad am Ring 24h-Rennen

Erste Runde
Der Staffelstab ist eine Trinkflasche mit Transponder, die man nicht öffnen darf und aus der man auch nicht trinken kann. Unser Startfahrer Ansgar übergibt mir die wichtigste Flasche und wünscht mir viel Spaß. Er kennt die Strecke in und auswendig und ist gespannt, wie ich die Nordschleife finden werde. Die grüne Hölle. Eine 90 Jahre alte Rennstrecke, die bereits 1976 als zu gefährlich für die Formel 1 eingestuft wurde. Na wunderbar. Insgesamt hat die Runde mit der Grand Prix Strecke 26 Kilometer, etwa 580 Höhenmeter und 93 Kurven. Das einzige, was ich vorher weiß: Es gibt steile Abfahrten und steile Anstiege. In der Fuchsröhre knacken einige Radfahrer die 100 km/h, während es an der Hohen Acht mit bis zu 17 Prozent bergauf geht. Es besteht also die Gefahr, dass ich hier rückwärts wieder runter rolle.Mehr weiß ich nicht, als ich zum ersten Mal von der zwar harmlosen, aber auch schon irgendwie coolen Grand Prix Strecke auf die Nordschleife abbiege. Diese Asphaltkilometer, die wir schon vor zehn Jahren bei Rock am Ring als heiligen Boden bezeichnet haben. An deren Rand man campen konnte, wenn man keinen Bock auf Kuhwiese hatte. Heute ist weniger Rock'n'Roll. Die Strecke verpasst mir ganz von allein einen Rausch. Um die 20 Meter Breite, rechts und links die rot-weißen Begrenzungen, dahinter Wiese. Zum allerersten Mal bergab, in die Kurven. Ich verliebe mich auf Anhieb. Der Mythos Nordschleife liegt einfach in der Luft, ich habe ihn unter meinen Reifen und mein Herz hüpft wie wahnsinnig, weil ich hier fahren darf. Hier mit dem Rad runter zu düsen, die Kurven zu nehmen, dabei immer im Hinterkopf, dass es gleich noch länger runter geht, noch krasser wird, und dann einige Kilometer lang steil wieder rauf. Das Glücksgefühl, hier Rennrad zu fahren, vermischt mit dem Respekt vor der Strecke - ein bittersüßer Cocktail, der mich bis zur Hälfte der Runde trägt.

Es zieht sich. Ewig. Ich glaube, mein Garmin ist kaputt, denn es zeigt permanent 11,8 km/h an und nichts anderes mehr. Vielleicht sind auch nur die Beine kaputt. Endlich wieder ein halbwegs flaches Stück vor dem Caracciola-Karussell: "Flache" vier bis fünf Prozent, klasse. Nach der Steilkurve (wie gut, dass ich schon mal auf der Bahn war!) kann ich kurz durchatmen, danach geht es in das letzte Stück rauf zur Hohen Acht. Ich warte darauf, dass die 17 Prozent mich umhauen, dass ich rückwärts den Berg wieder runter rutsche, einfach umkippe oder absteigen muss. Nichts davon passiert. Ich sehe schon von unten einen Zielbogen und hoffe, dass er den höchsten Punkt markiert. Allerdings traue ich mich nicht, bei den Nebenmännern zu fragen. Die Gefahr, dass ich sofort absteige und mich auf die Wiese setze, falls mir irgendwer verrät, dass es danach noch weiter rauf geht, ist zu groß.

Endlich ist die Zielgerade in Sicht. Danach noch schnell die drei, vier Kurven bis zu unserem Camp und Übergabe der Staffel-Flasche. Ich fühle mich ein kleines bisschen besonders, weil ich jetzt im gleichen Club wie Ansgar bin und mitreden kann, während das Debüt von Christian und Jan noch aussteht. Wir schicken den dritten Fahrer auf die Strecke. Wie wars? "Geil! Aber auch hart! Total krass! Viel Spaß!" Ansgar schiebt "Genieß es!" hinterher, was irgendwie der beste Tipp ist. Die Nordschleife fordert viel, aber sie gibt dir auch alles.
1:02 Stunden habe ich für meine Runde gebraucht. Ich hatte keine Vorstellung, wie schlimm oder nicht schlimm die Höhenmeter sein würden und hatte eine grobe Stunde angepeilt - kommt hin. Abgesehen davon habe ich den großartigen Plan ausgeheckt, die erste Runde erst einmal langsam anzugehen, um die Strecke kennenzulernen. Steigern kann man sich ja hinterher immer noch. Denkste. Die erste Runde wird auch 24 Stunden später noch meine schnellste sein.

Zweite Runde
Die anderen drei sind alle etwas schneller unterwegs, so dass ich meine Pause dahinschwinden sehe. Obwohl ich gefühlt eben erst zurück gekommen bin, sitze ich nach knapp drei Stunden schon wieder auf dem Rad. Die Vorfreude hält bis zur ersten dezenten Welle. Scheiße! Wieso merke ich schon in der zweiten Runde meine Beine? Das kann ja noch lustig werden. In den Abfahrten bin ich immernoch vorsichtig, traue mir aber mehr zu als in der ersten Runde. Die größte Angst: Bei Rechtskurven, die ich nicht innen fahren will, zu weit nach links zu geraten und von einem schnelleren Fahrer von hinten abgeräumt zu werden. Ich blicke mich also lieber 27x um, bevor ich in eine Kurve fahre.Inzwischen weiß ich, wo die Fuchsröhre ist und freue mich über eine lange Abfahrt, bei der man die Kurven fast ignorieren kann. Trotzdem traue ich mich nicht von Anfang an, die Bremse komplett zu lösen. Erst als ich alles einsehen kann, mache ich die Bremse auf und werde immer schneller. In der ersten Runde war die Straße hier noch vom Regen nass, mittlerweile ist zum Glück alles abgetrocknet. Ich fliege. Ich kann währenddessen nicht nach unten gucken, sondern halte den Lenker fest, will nicht denken, aber schwanke zwischen "ist das geil" und "ach du scheiße". Erst im nächsten Anstieg wage ich den Blick aufs Garmin: bergauf noch 77 km/h. Strava verrät mir später, dass die Höchstgeschwindigkeit bei 81,7 km/h lag. Ich glaube, wer hier völlig ohne Angst runter fährt, tickt nicht ganz sauber. Meine Mischung aus Respekt und Euphorie bringt mich irgendwie sicher durch die Runde.
Zumindest bis zur Kurve Wehrseifen, als ich jemanden im Kiesbett liegen sehe. Zwei Fahrer stehen etwas ratlos daneben, es ist noch kein Krankenwagen da. Mich irritiert, dass die beiden so weit weg stehen und sich keiner direkt um den Verletzten kümmert, deshalb halte ich an. Frage, ob sie noch Hilfe brauchen und erkenne im gleichen Moment: ja. Ein Rettungswagen ist bereits informiert, ich kann eigentlich gar kein Blut sehen, aber jetzt kann ich es doch und kümmere mich um den Fahrer am Boden. Ich denke nicht, sondern funktioniere nur. Versuche, ihn zu beruhigen, überhaupt erst einmal zu ihm durch zu dringen, mit ihm zu sprechen. Als nach einer gefühlten Ewigkeit die Notärztin eintrifft, weiß ich, dass es für mich nichts mehr zu tun gibt. Ich fahre weiter, auch wenn ich nichts lieber will als zurück am Camp sein.
Die Hälfte der Runde liegt noch vor mir, damit also auch die Anstiege. Ich will nicht mehr. Aber da ich auch nicht hier bleiben kann, fahre ich weiter. Irgendwie. Mein Kopf ist leer. Meine Beine auch. Mein Ehrgeiz liegt irgendwo mit einem kaputten Rennrad im Grünstreifen. Ich schiebe die letzten Meter der Hohen Acht und es ist mir nicht mal peinlich. Ich rolle zurück zu den anderen und denke, ich muss irgendwie die Fassung bewahren, damit meine Ablösung nicht mit einem schlechten Gefühl auf die Strecke geht. Als er weg ist, kommt alles raus. Bis eben habe ich funktioniert, aber jetzt nicht mehr.

Dritte Runde
Ich brauche eine Pause. Körperlich und mental. Ich gehe duschen, versuche auf andere Gedanken zu kommen. Mir ist schlecht, aber ich esse, weil irgendwie Energie rein muss. Tortellini mit Tomatensauce. Als die Zeit verstreicht, wird mir klar, dass ich die nächste Runde nicht mehr im Hellen fahren werde. Ich würde am liebsten gar nicht mehr fahren, aber ich ahne: Wenn ich jetzt kneife und mich nicht wieder aufs Rennrad setze, wars das mit mir und der Nordschleife. Ich blicke der neu gewonnenen Angst vor Kurven, Abfahrten und Stürzen also lieber jetzt gleich ins Auge als irgendwann später.Als ich gegen 22 Uhr starte, ist die Sonne bereits untergegangen, aber es ist noch nicht stockdunkel. Christian sagt, ich soll die Lichter genießen. Das mache ich. Die Grand Prix Strecke leuchtet so wunderbar. Viele Teams haben als Erkennungszeichen Lichterketten, leuchtende Gartenzwerge, Weihnachtsdeko oder gleich Leuchtreklame installiert. Ich schaffe es tatsächlich, die Atmosphäre aufzusaugen. Beim Abbiegen auf die Nordschleife nehme ich mir vor, es so langsam wie nötig anzugehen. Mir so viel Zeit zu nehmen, wie ich brauche.

Die Dämmerung weicht der Dunkelheit. Ich bin froh, dass ich im Winter schon öfters im Dunkeln Rennrad gefahren bin. Dass ich dieses Gefühl schon kenne, wenn die Sicht schlechter wird und alle anderen Sinne sich schärfen. Anspannung und Konzentration sind auf Maximum. Alles ist plötzlich unheimlich laut: der Wind in den Ohren, der Freilauf. Ich rausche bergab. Die Ankunft im nächsten Anstieg ist ein Auftauchen aus dem rauschenden Ozean. Eine völlig andere Welt. Eine totenstille Welt, die nur daraus besteht, dass viele rote Lichter aufgereiht bergauf kriechen. Vereinzelt höre ich Atemgeräusche oder mal eine ratternde Schaltung. Niemand spricht. Wir sind viele, eine ganze Armee aus roten Punkten, wir haben alle das gleiche Ziel, aber niemand ist zu Smalltalk aufgelegt.
Das langsamere Tempo tut mir gut. Ich beschließe, dass ich die Hohe Acht dieses Mal hoch fahre, egal was kommt. Hinterher stelle ich fest, dass ich damit nicht schneller war als in der Runde zuvor zu Fuß, aber immerhin stolz, es mir selbst noch einmal bewiesen zu haben. Meine Kopfschmerzen, die ich schon seit der zweiten Runde mit mir rumschleppe, nehmen zu, so dass ich die anderen zurück im Camp um eine längere Pause bitte. Es ist nach 23 Uhr und ich kann mir nicht vorstellen, um 2 Uhr schon wieder auf dem Rad zu sitzen. Ich brauche eine Pause für den Kopf und eine Mütze Schlaf.
Vierte Runde
Als um 4.15 Uhr der Wecker klingelt, frage ich mich, was die Scheiße soll und was ich hier eigentlich mache. Es ist kühl draußen und schön warm in meinem Schlafsack. Warum zur Hölle sollte ich jetzt das Zelt verlassen? Wer ist eigentlich auf diese bescheuerte Idee gekommen, ein 24h-Rennen zu veranstalten und Leute mitten in der Nacht radfahren zu lassen?Es ist 5 Uhr und ich sitze auf dem Rennrad. Zum ersten Mal mit langem Trikot, weil 13° in den Abfahrten dann doch ein bisschen frisch sind. Die Sinnfrage verlässt mich zum Glück gleich mit dem Losfahren: Ich mache das, weil ich es möchte. Weil ich das Radfahren liebe, weil diese Strecke der Hammer ist, weil wir ein Team sind und weil wir das irgendwie zu Ende bringen. Und weil jeder eben beisteuert, was er kann. Ein Gedanke hält mich besonders bei Laune: Wenn ich von der Runde zurückkehre, wird es hell sein.

Nur noch einmal in die dunklen Abfahrten. Ins rauschende Meer, um in der Stille zwischen den roten Punkten wieder aufzutauchen. Endlich dämmert es. Die Sonne schafft es noch nicht so richtig durch die Wolken, aber der Himmel färbt sich wunderbar rot. Jemand vor mir hält an, um ein Foto zu machen. Ich speichere alles in meinem Kopf, will den Moment nicht vergessen. Die Berge würde ich gern vergessen. Sie werden mit jeder Runde schwerer. Meine Beine sind inzwischen Blei. Ich kann bergauf keine annähernd sinnvolle Trittfrequenz mehr fahren. Und trotzdem überhole ich in diesem Schneckentempo noch den einen oder anderen (der vermutlich die drölfzigste Runde als Einzelfahrer dreht). Einmal ruft mir von hinten jemand "Starke Leistung!" hinterher und ich weiß nicht, ob es ironisch oder ernst gemeint ist. Ich krieche weiter nach oben, habe längst kein Zeitziel mehr für irgendeine meiner Runden. Ankommen zählt. Nur irgendwie gut durchkommen.
Ende
Dieses Mal stehe ich vor dem Wecker auf und hadere mit mir. Ich würde gern noch eine Runde fahren. Ich möchte es später nicht bereuen, sie ausgelassen zu haben. Aber ich weiß, dass meine Beine echt am Ende sind und dass es für uns um nichts geht. Vier Runden klingt verdammt wenig. 100 Kilometer und über 2200 Höhenmeter hören sich schon etwas anders an. Ich bereue nichts, weil ich weiß, dass ich nicht zum letzten Mal hier war.

Die letzten 24 Stunden waren wir wie in einem Tunnel verschwunden. Kaum genug Zeit, all die vielen tollen radfahrenden Menschen zu treffen, die sich hier tummeln. So viel zu tun mit essen, schlafen, fahren, mitfiebern, warten, den Pavillon bei Windböen festhalten und und und. Dass diese wunderbare anstrengende Zeit gleich vorbei ist, wird mir klar, als wir zur Zielgerade fahren, um auf unsere Teamkameraden zu warten und gemeinsam über die Ziellinie zu rollen. Rechts und links der Strecke stehen Rennradfahrer und Mountainbiker bunt durcheinander gemischt. 8er, 4er, 2er-Teams, Fans von Einzelfahrern, alle. Jeder, der irgendwas mit einem der 24h-Rennen zu tun hat, wartet hier auf seinen Fahrer, sein Team. Endlich sind wir komplett und Ansgar fragt, ob wie über die Ziellienie hahnern. Nein! Kein Sturz auf den letzten Metern! Nebeneinander fahren muss reichen.
Im Team mit dem Motto "Erlebnis vor Ergebnis" haben wir 20 Runden zusammengekriegt. Macht 520 Kilometer, 11.000 Höhenmeter und vier ziemlich müde, aber glückliche Fahrer. Der beste Einzelfahrer hat übrigens 27 Runden geschafft, das beste 4er Team 32. Der helle Wahnsinn. Also, es ist so: So hart das war, ich habe mein Herz an den Ring verloren. Spätestens jetzt. Ich komme wieder! Und ich möchte am liebsten dazu beitragen, dass mehr Frauenteams auf der Strecke sind. Bei den 8er-Teams waren es nur vier, bei 4er-Teams genau 20, wenn ich richtig in die Ergebnisliste geschaut habe. Und davon sind 17 Teams mehr als 20 Runden gefahren - das ist ne Ansage! Auch die Rundenzeiten sind verdammt flott. Ich geh dann noch ein bisschen trainieren ...

So, was noch?
Einschlafen geht nach diesem Wochenende übrigens ungefähr so: Ins Bett legen, Gute Nacht sagen, Augen zumachen, schlafen. Bäm!
Christian hat dieses Mal übrigens nicht nur großartige Fotos, sondern auch ein hübsches Video gemacht. Das gibt's hier zu sehen. Bis zum Ende gucken. Viel Spaß!
Der Veranstalter von Rad am Ring hat uns den Startplatz zu vergünstigten Konditionen zur Verfügung gestellt. Es gab in keiner Form Einflussnahme auf die Berichterstattung. Vielen Dank, dass wir dabei sein durften und bis zum nächsten Mal!