Samstag, 30. November 2019

Raceday No. 78 - Berlin Marathon 2019

Patsch. Patsch. Patsch. Bei jedem Schritt gibt das Wasser in den Schuhen ein matschiges Geräusch von sich. Die Socken sind ebenfalls komplett durchnässt, Hose und Shirt sowieso. Es gibt keinen trockenen Quadratzentimeter Stoff an meinem Körper. Selbst beim Trinkrucksack bin ich nicht sicher, ob er ausläuft oder ob das alles Regen ist. Tropft da Schweiß von meiner Augenbraue? Oder nur Wasser?

Eigentlich laufe ich gern bei Regen. Er kühlt angenehm, es wird nie zu heiß und irgendwann ist es auch egal, wie nass man ist. Nur ist es blöderweise heute anstrengender als sonst. Ich bin bei Kilometer 15. Es liegen noch 27 Kilometer vor mir. Kein Schritt fällt mir leicht, von Anfang an ist der Puls weit oben, obwohl ich langsam laufe. Wirklich langsam. Bei Kilometer 10 bin ich genau in meinem sehr tief gestapelten Zeitplan. Bei 15 ebenso. Kurze Pipipause. Wenn es jetzt schon so hart ist, wie soll ich dann noch drei Stunden lang weiterlaufen? Es sollte sich jetzt noch halbwegs leicht anfühlen. Es fühlt sich allerdings beinahe an wie ein schneller 10er. Wenn ich noch mehr Tempo raus nehme, gehe ich. Halbmarathon. Immer noch in der geplanten Zeit, ganz langsam. Es geht nichts mehr. Ich gehe.


Ich muss zugeben, dass ich bisher wenig Respekt vor richtig langen Marathon-Zeiten hatte. In acht Stunden 42 Kilometer walken kann theoretisch jeder gesunde Mensch mit zwei Beinen, es macht halt nur kaum einer. Dauert ja auch einfach ewig. In Berlin ist mir ein bisschen klarer geworden, was es eigentlich bedeutet, wenn es schon früh nicht gut läuft und man früh merkt, das wird heute lange dauern. Sehr lange. Und was es dann doch für eine Leistung ist - vor allem eine mentale - diese Ziellinie zu erreichen.

Dieser Abschnitt ist leicht falsch zu verstehen. Ich meine damit nicht, dass ein Marathon erst ab einer bestimmten Zeit "etwas zählt". Ich will damit auch nicht sagen, dass ich körperlich in Berlin nichts geleistet hätte. Ich will einfach darauf hinaus, dass etwas, was im ersten Moment verhältnismäßig einfach wirkt (nämlich lange gehen oder sehr langsam laufen), dann doch gar nicht mehr so einfach ist, wenn man sich die ganze Dauer vor Augen führt. Fünf, sechs, sieben oder gar acht Stunden. Das muss man schon ziemlich wollen.


Ich hatte mir 2018 mit dem Inlinemarathon den Startplatz für den Lauf gesichert. Also keine Lotterie, sondern sicherer Startplatz, bezahlen muss man dann natürlich zweimal. Egal, once in a lifetime. Seit ich in Berlin das erste Mal zugeschaut hatte, wollte ich dort laufen. Die Atmosphäre ist besonders, die Strecke toll, der Zieleinlauf durchs Brandenburger Tor schwer zu toppen. 125 Euro Startgebühr sind ziemlich happig, aber günstiger wirds in den nächsten Jahren wohl kaum, daher dachte ich: Jetzt oder nie. Ich habe lange überlegt, ob ich mich wirklich in diesem Jahr anmelden will, weil die Voraussetzungen für ein Marathontraining durchaus besser sein könnten als in den letzten beiden Semestern des Studiums. Klausurphase und Abschlussarbeit, dazu noch ein fast vierwöchiger Urlaub und überhaupt Training im Sommer. Viele Gründe, die dagegen gesprochen haben, aber schließlich hat das Herz sich durchgesetzt. Ich wollte laufen.


Das einzig Gute, wenn man schon vorher weiß, dass der Zeitpunkt nicht ideal ist: Keine Gelegenheit, um hohe Erwartungen entstehen zu lassen. Trotzdem schwierig, das im Kopf umzusetzen, wenn man generell dazu neigt, sich zu viel Druck zu machen. In Berlin klappt das. Das erste Mal ans Aufgeben denke ich nach 15 Kilometern. Danach immer wieder. Mein Deal mit mir selbst geht so: Ich laufe bis Kilometer 33, dort steht meine Freundin Steffi. Dann kann ich mit ihr zusammen nach Hause fahren. Bei Kilometer 31 oder 32 wird mir dann klar: Wenn ich es bis hier hin geschafft habe, schaffe ich es auch bis ins Ziel. Ich habe keine Beschwerden, die groß genug sind, um auszusteigen. "Es läuft einfach nicht", reicht nicht.

Ein Läufer vor mir fängt unheimlich schief an "With or without you" von U2 zu singen. Eine andere Läuferin stimmt ein. Ich singe nicht mit, weil ich froh bin, gerade genug Luft zu bekommen. Für ein Grinsen reicht es noch. Was für ein Moment! "I can't live with or without you ..."


Auf dem Kudamm entschließt Steffi sich spontan, mich ein gutes Stück zu begleiten. Ich habe mich mittlerweile so sehr mit der Situation angefreundet, dass ich ihr freudig mitteile, dass es heute leider scheiße läuft und länger dauern wird. Ich weiß, dass die letzten 9 Kilometer noch lang werden können, aber es ist mir jetzt egal, wie lange sie noch dauern. Ich laufe, wenn ich kann, und ich gehe, wenn ich muss.

Die letzten Kilometer kenne ich schon vom Skaten im letzten Jahr und vom Halbmarathon im April. Es ist aber doch etwas anderes, gegen Ende des Marathons auf Unter den Linden abzubiegen. Die Menschenmengen, das Brandenburger Tor, all dieser Lärm. "Ihr seid alle Helden" meint ein Werbebanner. Kopfsteinpflaster, nur noch wenige Meter. Die Ziellinie ist in Sichtweite. Nach 4:47 Stunden laufe ich endlich darüber. Mein dritter Marathon ist zugleich der langsamste. Es ist mir egal. Ein anderes Schild sagt: "Strangers are proud of you". Ich bin es auch.