Montag, 28. November 2016

Warum laufen wir? - Ein Liebesbrief

Ich bin mit meinen neuen Kollegen für drei Tage am Meer. Bergen aan Zee. Offsite. Bedeutet: Vorträge halten und hören, in neue Themen eintauchen, den Kopf frei pusten, neue Impulse mitnehmen. Und laufen. Laufen, laufen, laufen. Ob ich darüber schreibe, werde ich gefragt. Nö. Weiß nicht. Was habe ich denn zu erzählen? Wir sind gelaufen? Nicht sehr spannend. Wir verkaufen Laufschuhe. Bietet sich also irgendwie an.

Nach drei Tagen sitze ich im Zug von Amsterdam nach Hamburg und will nur eines: Schreiben. Die vielen Eindrücke sortieren, die gerade einfach nur sehr laut „Wunderbar!“ brüllen. Möchte rauskriegen, warum genau die Zeit am Meer so großartig war, warum mir das Laufen hier so übertrieben viel Spaß gemacht hat, was ich davon mit nach Hause nehmen kann.


Von vorn. Ich habe im Oktober den Job gewechselt. Aus der PR einer großen Agentur in eine winzig kleine. Weg von Themen, die mich relativ kalt gelassen haben hin zu dem, worüber ich sowieso die meiste Zeit des Tages nachdenke: Sport. Nach zwei Wochen wusste ich mehr über Laufschuhe als jemals in meinem Leben zuvor. Wir sind nur acht Leute. Ich bin die Neue. Und ich bin es nicht. Die paar Tage zusammen führen uns raus aus Düsseldorf und ab ans Meer. Als wir ankommen, ist es bereits dunkel. Der erste Weg führt – natürlich – zum Strand. Elend viele Treppen mit bescheuerten Stufen rauf. Für einen Schritt zu klein, um zwei auf einmal zu nehmen zu weit auseinander. Ganz schön viele. Ganz schön steil. Nervig. Nach einer Ewigkeit sind wir oben auf der Düne. Können im Dunkeln das Meer erahnen. Es riechen. Hören. Irgendwie fühlen. Auf der anderen Seite gibt es keine Treppen, also rennen wir runter. Ich habe das Gefühl, ich rolle: Nehme immer mehr Fahrt auf, habe Angst, mich zu überschlagen und komme schließlich doch in einem Stück unten an. Im tiefen Sand. Wir stapfen bis zum Wasser. Der Sand wird fester. Richtig hart. Richtig gut. Wie kleine Kinder packt es uns: Wir rennen hin und her. Springen. Galoppieren. Haben keine Wahl, müssen laufen. Der Boden schreit danach. Spontane Absprache: Gehen wir richtig laufen? Jetzt? Ja, ja und ja.

Am Strand entlang. Für immer.


Zurück ins Haus, schnell umziehen und wieder zum Meer. Voller Vorfreude auf das Gefühl, wieder den harten Sand unter den Laufschuhen zu haben, rennen wir die Treppen hoch. Nichts mehr mit doof. Immer noch steil, aber egal. Es ist dunkel unten am Strand. Wir können die Wellen hören. Die Lichter einer einzigen Strandhütte sehen. Wo wollen wir hin? Rechts? Links? Egal. Wir entscheiden uns für rechts. Und dann geradeaus. Am Strand entlang. Für immer.

Es ist gerade mal 18 Uhr, aber der Strand ist menschenleer. Wirkt wie mitten in der Nacht. Und fühlt sich trotz Ende November an wie eine verdammte Sommernacht. Ich laufe im T-Shirt. Im Gegenwind. Mir ist nicht kalt, der Wind nervt kein Stück, die Füße laufen, laufen, laufen. Wie von selbst. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie schnell oder wie weit wir laufen. Es ist vollkommen egal, es gibt keinen Druck. Keinen Trainingsplan und als einziges Zeitlimit das Abendessen. Irgendwann später. In einer anderen Welt.


Wir lassen die Strandhütte mit ihren Lichtern hinter uns und tauchen in die Dunkelheit ein. Wir sind in der Unendlichen Geschichte, wir laufen geradeaus ins Nichts. Die Lichter des Ortes reichen nicht bis hier, der Mond ist nicht zu sehen, aber die Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Links ist das Meer, rechts die Dünen, vorne der Wind. Mittendrin wir, ohne Plan, ohne Anstrengung. Wir springen über ein paar Priele – manchmal reicht ein kleiner Hüpfer, manchmal muss ich ein Stück sprinten und alles an Schwung mitnehmen, was geht, und manchmal werden die Füße nass. Wir klettern über Steine, quetschen uns zwischen Holzpfählen durch, patschen durch Pfützen, finden einen Anker, rennen aus Versehen ins Meer, machen einen Ausflug in den tiefen Sand, ich möchte deshalb kurz sterben, aber fühle gerade einfach nur das Leben. Die Luft schmeckt nach Meer. Unter den Schuhen knirschen die Muscheln. Einige Kilometer entfernt irgendwo am Ende der Welt leuchtet ein Leuchtturm. Heilige Scheiße. Kurz anhalten, atmen, alles aufsaugen.

Bye bye, runner's high!

Wir können nicht ewig laufen, auch wenn es sich gerade so anfühlt. Die Vernunft und der Hunger siegen und so drehen wir schließlich wieder um. Geradewegs zurück. Ohne Gegenwind ist es plötzlich ganz still. Still und warm. Mein Kopf glüht. Die Beine haben noch lange nicht genug, die Füße laufen wie von selbst, aber ohne diese Wand aus Wind im Gesicht spüre ich auf einmal, wie warm mir ist und wie anstrengend der Lauf eigentlich ist. Bye bye, runner’s high!



Tag zwei wartet auf uns mit Kaiserwetter. Etwas kühler, aber Sonne satt ohne eine einzige Wolke am Himmel. Während der Präsentationen sitze ich wie auf heißen Kohlen: Wir sind so nah am Meer, das Wetter ist der Oberhammer, ich muss raus. Es juckt in den Füßen, obwohl die Beine mich spüren lassen, dass sie den spontanen Strandlauf von gestern noch nicht so ganz weggesteckt haben. Meine größte Sorge ist heute nicht, dass ich meinen eigenen Vortrag vermasseln könnte, sondern dass die Sonne nicht mehr scheint, wenn wir Zeit zum Laufen haben. Sie scheint so gerade eben noch. Also zackig umziehen und los – heute zu dritt anstatt nur zu zweit.


Die Beine laufen und der Kopf arbeitet weiter

Unterwegs arbeiten die eben gehörten Themen im Hirn weiter. Die Beine laufen und der Kopf brütet irgendwas aus – ein gutes Gefühl. Heute stellt sich allerdings kein magisches „juhu wir laufen am Strand und hören nie wieder damit auf“ ein. Trotzdem ist der Lauf schön, denn endlich sehen wir mal, wo wir hier eigentlich laufen. Die beiden Gazellen neben mir tänzeln über den Strand, an der Wasserlinie entlang, durch den tiefen Sand, durch noch mehr tiefen Sand, über einen Muschelweg, einen Hügel rauf, noch einen Hügel rauf, auf die fucking höchste Düne in Sichtweite. Scheiße. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Die brennenden Oberschenkel oder die Lunge, die zu platzen droht. Oben angekommen ziehe ich erst mal die „wir müssen hier unbedingt ein Foto machen!“-Karte. Kurze Verschnaufpause. Dann gehts wieder runter.




Über eine MTB-Strecke (komisch, ich sehne mir zur Abwechslung tatsächlich kein Fahrrad herbei), über ein paar Baumstämme, eine Rampe, schon wieder durch tiefen Sand. Ich entwickle langsam ein neues Hassobjekt: Laufen ist ok, tiefer Sand ist Mist. Auf einmal sind wir im Wald und plötzlich ist der Weg asphaltiert. Was für ein gigantischer Scheiß! Wie hart! Kann ich zurück in den Sand, bitte? Wie konnte ich es denn jemals angenehm finden, auf Asphalt zu laufen?

Es ist viel zu schön hier, um nicht zu laufen

Das Rätsel muss ich wohl zuhause lösen, denn auch am dritten Tag wächst die Abneigung gegen ausgebaute Wege und gleichzeitig die Liebe für Trampelpfade. Wir sind mit dem Programm ein kleines bisschen früher durch, haben zum Laufen also noch etwas mehr Tageslicht als gestern und wieder gar keinen Zeitdruck. Dass wir überhaupt laufen, steht außer Frage. Dritter Tag in Folge – kein Problem. Würde mir zuhause nie einfallen, aber hier ist es einfach viel zu schön, um nicht zu laufen. Wir sind wieder zu zweit und haben keinen Plan – nur die grobe Idee, dieses Mal nicht am Strand zu starten, sondern in der Dünenlandschaft direkt vor der Haustür. Gestern Nacht haben wir hier gestanden und uns den Nacken verrenkt, uns über die völlige Dunkelheit und den sternenklaren Himmel gefreut. Heute wollen wir uns diesen Teil der Dünen im Hellen anschauen und herausfinden, wo der Weg uns hinführt.


Wir einigen uns darauf, dass es hier aussieht wie auf dem Mond, nur anders. Der Weg schlängelt sich durch die Dünen und obwohl der Ausblick eigentlich immer der gleiche ist (links Hügel, rechts Hügel), sorgen die wechselnden Formationen und das Licht dafür, dass es nicht langweilig wird. Nur genießen kann ich die ganze Sache nicht so voll und ganz, denn irgendwie ist der Scheiß heute echt anstrengend. Ich kann nicht abschalten und bemerke jeden Schritt. Keine Spur von der Leichtfüßigkeit des ersten Abends, als ich aus Lust und Laune einfach am Strand umher gerannt bin und nichts wollte außer laufen. Ich lasse mich mit Fachsimpeleien über Filme ablenken: Bei der traumhaften Landschaft um uns herum ist der Weg zu Herr der Ringe nicht weit. Ich frage mich, wie Stephen Kings Dunkler Turm aussehen wird, der nächstes Jahr endlich ins Kino kommt.


Viel zu spät merken wir, dass wir uns ziemlich zielsicher ein ganzes Stück vom Strand entfernt haben – eigentlich wollten wir nur ein bisschen durch die Dünen traben und am Strand zurück. Als wir auf einen Parkplatz stolpern und uns die Zivilisation zu nahe kommt, biegen wir gerade noch rechtzeitig ab und beschließen, dass querfeldein auch eine gute Option ist. Die Dünen sind hier nicht einfach nur Sandhaufen, sondern ziemlich fest und bewachsen. Wir folgen einem schmalen Weg aus lockerem Sand und laufen direkt ins Auenland. Aus dem Sandweg wird ein Trampelpfad und schließlich verschwindet er fast. Die Hügellandschaft um uns herum nimmt dagegen kein Ende – eine einzige gigantische Spielwiese.

Warum laufen wir? 

Es geht rauf und runter, anstrengend und toll zugleich. Mal brennen die Beine, mal geht mir die Puste aus, manchmal müssen wir ein paar Meter gehen, mal renne ich bergab und weiß auf einmal, dass man wirklich auch beim Laufen rollen lassen kann. Als gerade wieder gar nichts mehr geht und ich nur noch atmen will, stellen wir fest, dass sich das überhaupt nicht schlimm anfühlt. Kein bisschen wie versagen, sondern einfach wie leben. 


Zusammen laufen ist auch deshalb so wunderbar, weil die guten Gespräche immer dann aufkommen, wenn die Luft eigentlich schon lange weg ist: Wir spüren unseren Körper nicht auf der Couch. Dafür müssen wir ihn antreiben, uns antreiben. An Grenzen gehen. Und auch mal dahin, wo es weh tut. Weil es sich für die bekackten Endorphine lohnt, weil ich schon währenddessen weiß, dass ich später vollkommen verstrahlt grinsend unter der Dusche stehen werde und weil es einfach nur absurd, aber wunderschön ist, wenn ich noch einen Tag später mit dem gleichen glückseligen Gesichtsausdruck im Zug sitze, wenn ich diese Laufgeschichte aufschreibe. Es tut so gut, mal aus dem Trainingsalltag auszubrechen und neue Wege zu erkunden.


Bevor wir uns in philosophischen Tiefgründigkeiten verlieren, laufen wir lieber weiter. Hügel rauf, Hügel runter, irgendwo dahinten ist das Meer langsam zu erahnen. So weit noch?! Noch mehr Hügel, quer durchs hohe Gras, an pieksenden Büschen vorbei, über Stacheldrahtzäune. Ich bekomme eine leise Ahnung davon, was die Leute an Trailrunning so reizvoll finden. Der Trailrunnersdog hat dazu übrigens einige Tipps aufgeschrieben (die ich allerdings erst im Nachhinein gelesen habe, Schande über mich!). Auf einer Ebene halten wir an und ich schaue mir zum ersten Mal an, was Strava zu diesem Lauf sagt: Als wir feststellen, dass wir komplett im Kreis gelaufen sind, lachen wir uns über unseren eigenen offensichtlich nicht vorhandenen Orientierungssinn kaputt und beschließen dann, den kürzesten Weg zum Meer zu nehmen. Die Hügel leuchten nicht mehr grün, sondern golden, als wir vor der dem letzten Anstieg stehen: Eine übertrieben steile Düne mit einem gemeinen sandigen Weg nach oben. Laufen ist ausgeschlossen, selbst gehen wird schwer. Schließlich brauche ich alle Viere. Als ich mich oben aufrichte, kriege ich gerade noch „Wow!“ raus, bevor es mir die Sprache verschlägt. Kurz vor dem Sonnenuntergang eröffnet sich nach der Mondlandschaft der Blick in die endlose Weite, was für ein sensationelles Timing.




Allein für diesen Blick, diesen Moment, hat sich dieser Lauf so sehr gelohnt. Wir setzen uns erst mal in die Düne und schauen aufs Meer. Lassen alles wirken. Dieser Lauf ist zeitlos, keiner drängelt oder schaut auf die Uhr, die Pace ist das allerletzte, was interessiert und deshalb sitzen wir hier einfach so lange, bis es uns weiter zieht. Das hier ist kein Training, sondern die unendliche Schönheit der Welt - auf einem Fleck, selbst erlaufen.


Wir rollen ein letztes Mal die Düne runter. Der Sand hier ist richtig tief und ich zögere erst, will nichts kaputt machen und will mich auch wirklich nicht überschlagen. „Wenn du fällst, fällst du weich!“ Stimmt ja. Also ab dafür. Herrlich! Als wir am Strand unten angekommen sind, zieht es uns wieder zum festen Sand. Die Beine haben genug geleistet, die letzten Meter bitte nur noch genießen. Die Sonne gibt alles und untermalt das Ganze mit dem kitschigsten Sonnenuntergang aller Zeiten. Ich laufe rückwärts, um die Show nicht zu verpassen. Das Feuerding versinkt im Meer und der komplette Himmel leuchtet rosa. Überall. Wir müssen uns nicht absprechen um zu wissen, dass das hier der intensivste und schönste der drei Läufe war. Für mich der schönste seit langem. Vielleicht sogar überhaupt.

Denn was bliebe uns, wenn uns solche atemberaubenden Momente plötzlich kalt ließen, wenn wir uns nicht mehr so sehr über die Schönheit der Natur freuen könnten, wenn wir das Staunen verlernen würden? Wenn wir uns nie die Gelegenheit geben würden, mal auf etwas am Wegesrand zu achten, mal was Neues zu sehen? Und was würden wir jetzt noch davon spüren, wenn wir spazieren gegangen wären anstatt zu laufen, wenn wir nur zugeguckt hätten und nicht mittendrin gewesen wären? Für mich ist es nicht vergleichbar, ein paar nervige Treppen hochzusteigen und über den Dünenkamm aufs Meer zu blicken oder ewig durchs Auenland zu wieseln, es gleichzeitig zu lieben und zu hassen, sich gegenseitig anzustacheln und zu ziehen, sich durchzukämpfen und mit dieser ganz eigenen Mischung aus erschöpft und glücklich oben anzukommen. Mit den eigenen Füßen. Aus eigener Kraft. Voller Dankbarkeit. Mit dem Wissen, was hinter einem liegt, hinter beiden, und dann oben zusammen zu stehen und mit einer Aussicht belohnt zu werden, die beide gleichermaßen einfach nur umhaut. Das gibt’s einfach nicht genauso ohne Anstrengung vorher. Ich bin sicher: Die Belohnung ist umso größer, je mehr du investiert hast. Also nimm die Beine in die Hand und lauf!