Montag, 19. Juni 2017

Raceday No. 37 - Mitteldistanz Wasserstadt Triathlon Hannover 2017

Der Läufer vor mir schleppt sich wie ein angeschossenes Reh über die Strecke. Er humpelt und wandert und murmelt etwas auf Englisch. Ich denke an gar nichts: Ich laufe und atme und laufe und atme. Ich will nur an Michael dran bleiben. Sonst nichts. Wir überholen den Angeschlagenen. Ich habe Mitleid. Michael ruft ihm zu: "Enjoy your day!" Was zur Hölle? Der antwortet auch noch freudig: "You, too!" Michael lacht: "I do! I have Maren with me, it's a wonderful day." Diese Triathleten haben doch nicht alle Latten am Zaun.

Ich habe Michael vor ein paar Minuten am vorletzten Getränkestand kennengelernt. Die Laufstrecke ist nicht mehr so gut bevölkert, wenn man da ein Stück nebeneinander her geht und trinkt, kommt man automatisch ins Gespräch. Laut Trikot ist er bei der Feuerwehr Hannover und er plaudert munter von seiner Langdistanz auf Lanzarote, die erst drei Wochen zurückliegt. Nun ja. Ich schleppe mich hier über die Laufstrecke meiner ersten Mitteldistanz und irgendwie sind wir jetzt Verbündete.

Sechseinhalb Stunden zuvor. Der längste Tag des Jahres beginnt immerhin nicht mitten in der Nacht, sondern erst um 11.30 Uhr. Eigentlich eine tolle Startzeit, wären nicht 28° und Sonne angesagt. Mitteldistanz nun also. Nachdem ich im letzten Jahr keine Distanzen verlängert habe, sondern eine wilde Mischung aus Sprints, Olympischen Distanzen und Halbmarathons auf dem Programm hatte, geht es in diesem Jahr sowohl beim Laufen als auch beim Triathlon einen Schritt weiter. Marathon. Mitteldistanz. Das bedeutet 1,9 Kilometer schwimmen, 90 Kilometer radfahren und 21,1 Kilometer laufen. 113 Kilometer. So weit wie von Düsseldorf nach Eindhoven. Nur radeln: Kein Thema. Aber schwimmen und am Ende noch laufen?


Die Generalprobe in Gladbeck lief trotz Gewitter und Starkregen ziemlich gut. Meine beiden größten Sorgen sind: Wie schaffe ich es, bei meinem Bleienten-Schwimmtempo halbwegs gelassen zu bleiben, während mir das komplette Feld wegschwimmt? Und: Kann ich mich über eine so lange Zeit gut verpflegen, macht der Magen mit? Die Frage, wie sich ein Halbmarathon nach vier Stunden Belastung wohl so anfühlt, stelle ich mir lieber gar nicht erst. Wir werden sehen.

Das Schwimmen starte ich mit einem gekonnten Ausrutscher in den Kanal, bei dem ich sicher bin, mir den kleinen Zeh gebrochen zu haben. Das kann ja was geben beim Laufen. Ansonsten finde ich das Wasser prima, es ist nicht zu warm und nicht zu kalt und ziemlich klar. So klar, dass ich die Unmengen an Pflanzen wenigstens rechtzeitig erkenne und sie mich nicht einfach klammheimlich festhalten können. Ich erfahre glücklicherweise erst abends, dass eine Zuschauerin eine Schlange gesehen haben will. Ach. Du. Scheiße. Ich selbst sehe zum Glück nur Pflanzen, Pflanzen, Pflanzen und zwei verschiedene Arten Fische. Kleine Fische. Alles in Ordnung.

Der Ein- und Ausstieg ist übrigens der winzige bunte Fleck ganz da hinten links am Rand. Ich bin einer der roten Punkte. Auch irgendwo ganz hinten. 
Ich schwimme nicht gern im Freiwasser. Eigentlich schwimme ich zurzeit überhaupt nicht gern. Ich bin langsam und zu faul, daran etwas zu ändern. Der Aufwand, den man für okaye Schwimmzeiten betreiben muss, ist mir einfach zu viel. Von guten Zeiten mal ganz zu schweigen. Und so läuft es wie immer: Ich kraule munter los, freue mich, dass es keine wilde Schlägerei gibt, fühle mich im Wasserschatten unglaublich schnell, blicke dann mal nach vorn und stelle nach wenigen Metern fest, dass die ersten Schwimmer schon einen gigantischen Vorsprung haben, dass sich das ganze Feld zwischen uns auseinander zieht und sich neben mir nur noch wenige andere Problemfälle tummeln.

Vielen lieben Dank für die drei Schwimmbilder von oben an Sonja Vogel (@sonnikeks)
Ich kann nicht weiter kraulen, wenn ich niemanden habe, an dem ich mich orientieren kann. Also schwimme ich immer so lange Brust, bis mir der Rücken weh tut oder bis ich beschließe, die Beine doch noch ein bisschen zu schonen und wieder aufs Kraulen zu wechseln. Im Neo Brustschwimmen ist ungefähr das Beknackteste, was man machen kann. Auf einer Mitteldistanz Brustschwimmen wahrscheinlich auch. Der Kopf kann aber nicht anders. Ich will keiner von den Idioten sein, die es selbst im schmalen Kanal nicht schaffen, geradeaus zu schwimmen, sondern einfach nie nach vorne gucken und fast gegen die Mauer am Ufer donnern. Da behalte ich lieber den Überblick, versuche es von Zeit zu Zeit mit ein paar Zügen Kraul und bleibe ansonsten beim guten alten Brustschwimmen.

Der Wendepunkt ist übrigens so weit weg, dass er auf dem Bild ohne Lupe kaum zu erkennen ist. Er ist der winzige Punkt ungefähr dort, wo der Kanal scheinbar aufhört.
Wie gerne würde ich im Becken schwimmen. Lieber eine Milljausend Bahnen, als hier genau zu sehen, wie weit es noch ist. Oder es auch nicht zu sehen, weil die Boje am Wendepunkt einfach mal verdammt weit weg ist. 950 Meter, um genau zu sein. Es stresst mich, dass gefühlt alle anderen so viel weiter vorne sind, dass ich noch nicht mal ansatzweise in der Nähe dieser bescheuerten Boje bin und die ersten schon längst auf dem Rückweg sind. Die entgegenkommenden Schwimmer verursachen Wellen, die ich andauernd einatme. Könnte schöner sein.

Gut 24 Minuten dauert es, bis ich den Wendepunkt erreiche. Huch, 24 Minuten? Fühlt sich an, als würde ich schon seit einer halben Ewigkeit schwimmen. Tatsächlich ist die Zeit für mich ziemlich okay - auf wundersame Weise wirken sich Schwimmstil und Freiwasser gar nicht mal so sehr aus. Soll mir recht sein. Jetzt also nur noch mal eben zurück! Mittlerweile ist die nächste Startgruppe längst im Wasser und kommt mir entgegen. Schon wieder Wellen. Und dann die ersten, die überholen. Erst eine Handvoll und dann immer mehr. Ist eigentlich noch irgendjemand mit blauer Badekappe hinter mir? Inzwischen kommt mir die übernächste Startgruppe in gelb entgegen. Ist nicht wahr oder? Die überholen mich jetzt nicht auch noch!

Hurra, Schwimmen überlebt!
Nach 50 Minuten und 30 Sekunden ziehen mich nette fremde Hände aus dem Wasser und ich rutsche prompt nochmal auf den glitschigen Stufen aus. Scheißegal, bloß weg hier! Der Weg zur Wechselzone ist lang, sehr lang. Er führt über einen abwechselnd lila und grünen Teppich und ich würde gern mal wissen, wer sich dieses Farbkonzept ausgedacht hat. Die Zuschauer bejubeln mich, als hätte ich irgendetwas gigantisches vollbracht, Weltrettung oder so, man weiß es nicht. Nachdem ich mich zumindest obenrum aus dem Neo befreit habe, versuche ich, die rote Badekappe so gut es geht zu verstecken. Etwas peinlich zwischen all den blau bemützten Super-Schwimmern hier.

Der Weg zur Wechselzone am Vortag, noch ohne Zuschauer
In der Wechselzone liegen Klamotten und Gedöns getrennt vom Rad. Neo aus, Socken an, Schuhe an, Gels und Riegel in die Taschen stopfen und ab zum Rad. Helm auf, Sonnenbrille auf und raus auf die Strecke. Ein Helfer ruft: "Du siehst aber noch frisch aus!" Klar, das kommt davon, wenn man mehr planscht als schwimmt. Ich muss trotzdem grinsen. Als ich auf dem Rad sitze, fällt mir auf, dass irgendwas fehlt. Was baumelt da am Lenker? Kacke. Die Startnummer sollte ich am Rücken und nicht vorne am Lenker haben. Also nochmal anhalten, Startnummernband überziehen und weiter gehts.



Ich kenne die Radstrecke von der gemütlichen Testfahrt am Vortag. Eine Runde ist 30 Kilometer lang, führt recht schnell aus der Stadt raus und dann über die Dörfer. Die Strecke ist wunderschön: schnurgerade Landstraßen, sanfte Anstiege, eine tolle Abfahrt, guter Asphalt, ein paar Kurven und ein schöner Ausblick. Blumen am Streckenrand, lila Tupfer hier und ein knallrotes Mohnfeld dort. Den einzigen Haken habe ich gestern schon geahnt: Windanfälligkeit. Auf der Strecke hier würde ich lieber ein Radrennen fahren als mit Windschattenverbot im Triathlon. Die Strava-Segmente heißen hier schon "push ups" oder "always against the wind". Und genau so ist es: Leider pustet der Wind heute deutlich kräftiger als gestern und leider fühlen sich die Anstiege im Renntempo auch ein klitzekleines bisschen weniger sanft an als gestern im Cappuccino-Tempo. Wer hätte das gedacht.

Auf der ersten Runde geht mein Plan trotzdem in jeder Hinsicht auf. Die Beine sind gut, das viele Brustschwimmen rächt sich nicht. Ich halte den Schnitt bei 30 km/h und schaffe es, alles zu essen und zu trinken, was ich mir vorgenommen habe: einen Riegel, ein Gel und 2/3 aus der ersten Flasche Iso. Mit dem Riegel muss ich ziemlich kämpfen, im Training gingen die leichter runter. Der Magen spielt trotzdem mit, schon mal keine Übelkeit und keine Magenschmerzen wie beim Marathon.


Zweite Runde. Zum Wind kommen Kopfschmerzen dazu. Aus den Kopfschmerzen wird Schwindel, je nachdem, wohin ich den Kopf drehe. Ich nehme deutlich Tempo raus und versuche, nicht ständig aufs Garmin zu schielen. Trotzdem kann ich beobachten, wie mein Plan mit den drei Stunden dahin schmilzt. Der totale Tiefpunkt kommt ungefähr bei Kilometer 40, noch vor der Hälfte. Mich ärgert, dass die Beine sich zwar gut anfühlen, ich aber trotzdem nicht so kann, wie ich will, weil der Wind mich so anstrengt. Mich ärgert, dass ich kämpfe und nicht genieße, ausgerechnet bei der Lieblingsdisziplin und auch noch auf dieser schönen Strecke, Wind hin oder her. Mich ärgert, dass ich mich ärgere. Nie im Leben werde ich gleich noch laufen.

Gegen Ende der zweiten Runde nehme ich ein Koffein-Gel in der Hoffnung, dass irgendein wundersamer Energieschub kommt. Einen weiteren Riegel kriege ich nicht runter, dafür ist die erste Flasche aber inzwischen leer und die zweite wie geplant nur noch 2/3 voll. Ich brauche eine Abwechslung zum süßen Iso-Zuckerwasser und habe außerdem noch ein paar Himbeer-Gel-Reste auf dem Oberschenkel, die ich gern loswerden würde - Wasser muss her. Ich nehme zu Beginn der dritten Runde während der Fahrt eine Flasche am Verpflegungspunkt und bekomme dafür ein Lob von der Helferin. Okay! Flasche nicht fallen gelassen. Super!


Wasser tut gut, die Kopfschmerzen sind endlich weg, auf in die letzten Kilometer. Nachdem die zweite Runde ganze drei Minuten langsamer war als die erste, kann ich auf der letzten vor allem gegen Ende nochmal Gas geben. Mittlerweile kenne ich die Strecke gut, freue mich über die eine kurvige Abfahrt, die lange Gerade im Anschluss, das Mohnfeld, das "Eile tötet"-Schild. Die Handvoll Menschen am Hügel, die "Gleich ist oben!" rufen, als ob man gerade nicht zehn Höhenmeter überwinden, sondern den Mont Ventoux erklimmen würde. Die zwei Jungs, die auch in der dritten Runde nicht müde werden, für jeden vorbeikommenden Radfahrer zu klatschen. Ein letztes Mal der kurze, ein bisschen knackige Anstieg in Stemmen, dem schönsten Dorf im Landkreis 1996. Dieses Mal spare ich es mir, aufs kleine Blatt zu schalten, drücke den Hügel hoch und freue mich auf die großartige Abfahrt danach. Mit 53 km/h bergab schiebt mich eine Windböe einen Meter zur Seite - weniger witzig! Ich frage mich, wie all die Experten mit ihren Scheiben hier runter kommen. Gar nicht? Fliegend?


Nach drei Stunden und zwei Minuten ist das Radfahren geschafft. Laut Garmin fehlt mir gut ein Kilometer und der Schnitt liegt irgendwo knapp über 29, was solls. Nicht ganz so wie geplant, aber wer kann den Wind schon vorher mit einrechnen? Der gleiche nette Helfer wie vor drei Stunden begrüßt mich am Eingang der Wechselzone: "Na, dass du zurück kommen würdest, habe ich gewusst!" Das freut mich. Ungemein. Nach drei einsamen Stunden auf dem Rad ist das das Beste, was er hätte sagen können. Und so bin ich abgelenkt, denke gar nicht darüber nach, dass ich eigentlich überhaupt nicht mehr laufen wollte. Rufe ihm hinterher, dass er mir ruhig mal hätte sagen können, dass ich die Startnummer vorhin am Rad und nicht am Körper hatte. Lache, stelle das Rad ab, tausche Helm gegen Visor, wechsele die Schuhe und stecke mir neue Gels in die Taschen. 3:08:22 ist die Radzeit inklusive beider Wechsel und schon bin ich auf der Laufstrecke. Ups.


Laufen nun also. Ich denke nicht an den Halbmarathon, sondern nur stückchenweise. Von einem Getränkestand zum nächsten. Das Etappenziel ist genau zwei Kilometer entfernt, rückt näher und belohnt mit Wasser oder Cola. Ich könnte auch Iso, Gels oder Salzgebäck haben, aber Wasser und Cola reichen vollkommen. Seit vier Stunden bin ich mittlerweile unterwegs. Die Hitze hat nachgelassen, aber warm ist es immer noch. Zum Glück habe ich einen Schwamm dabei, stecke ihn abwechselnd hinten und vorne in den Trisuit oder drücke ihn mir ins Gesicht.

Die Beine machen keine Probleme. Sind nicht schwer vom Radeln, nichts zwickt, das typische eirige Laufgefühl direkt nach dem Wechsel bleibt aus. Das war auch schon in Gladbeck so. Verrückt finde ich trotzdem, dass die Beine sich nicht anmerken lassen, ob sie 40 oder 90 Kilometer geradelt sind. Blöd auch, dass ich mit guten Beinen keine Ausrede habe. Komm ich ums Laufen wohl nicht drum herum... Christian kommt mir entgegen, wir klatschen ab. Er hat seine erste Laufrunde gleich schon hinter sich, während ich gerade mal starte. Frech. Ich bin gespannt, ob Ferdi vor oder hinter ihm ist und gucke auf die Uhr. Als ich ihn endlich entdecke, schwappt in Sekundenbruchteilen ein ganzer Emotions-Cocktail zu mir rüber: Freude und Erleichterung über die Begegnung, dazu Stolz und Respekt für uns beide für das, was wir hier gerade machen. Wie schön das ist, mit Freunden im Rennen zu sein! Ich rufe ihm den Abstand auf Christian zu und feuere ihn an - erst ein paar Meter weiter fällt mir ein, dass ich mich während der drei Minuten ja auch fortbewegt habe und die Angabe daher gar nicht stimmt. Die Überlegung, ob ich den richtigen Abstand irgendwie sinnvoll hätte rauskriegen können, beschäftigt mich noch eine Weile.


In einem Garten direkt an der Strecke läuft "All the leaves are brown". Ungefähr so fühle ich mich gerade auch. Sehr motivierend. Endlich, das nächste Wasser. Eines über den Kopf und eines zum Trinken. Scheiß auf die guten Beine, ich dehne die Trink- und Gehpause noch etwas aus. Fängt ja gut an, schon auf der ersten Runde am Wandern, obwohl eigentlich nichts ist. Auf einem Rücken lese ich "Trifun irgendein See". Wer zur Hölle nennt seinen  Verein Trifun? Ich meine TRIFUN?? Denen ist doch nicht mehr zu helfen. Es gibt übrigens noch zwei andere Athletinnen, die im gleichen Trisuit rumlaufen wie ich. Bei jeder Begegnung grinsen wir uns an.

Irgendwie kriege ich es auf die Reihe, bis Kilometer 5 zu gelangen und ein Helfer zieht mir ein Haargummi übers Handgelenk. Wenn ich ins Ziel laufen will, brauche ich noch ein zweites. Na toll. Zuhause habe ich hunderte davon. Blöde Dinger. Niemals im Leben werde ich eine zweite Runde laufen. Keinen fucking Halbmarathon. Zehn Kilometer sind auch fein. Laufen, gehen, laufen, gehen. Ich überhole eine Läuferin im Schneckentempo. Wie zwei LKW auf der Autobahn. Sie sagt: "Wir sehen uns jetzt zum dritten Mal, wieso gehen wir nicht einfach einen Kaffee trinken?" Ich kann mich zwar nicht an sie erinnern, weil ich die Augen nur nach Christian, Ferdi, Naomi und den beiden Mädels in meinem Trisuit offen halte, aber mir gefällt die Idee. Ich schlage vor, dass wir stattdessen ja zusammen laufen können. Erst schweigen wir uns an, aber ich merke, wie uns beiden die Gesellschaft hilft. Das Tempo ist knapp schneller als Gehen und so können wir uns eigentlich auch unterhalten. Ich frage sie nach ihrem Namen: Susanne.


Susanne ist auf der Quadrathlon-Mitteldistanz gestartet, das heißt, sie musste nur 60 Kilometer radfahren und danach noch 11 Kilometer paddeln. Ich will alles darüber wissen. Wie fühlt es sich an, nach dem Paddeln zu laufen? Merkt man da irgendwas besonders? Wo wird überhaupt gepaddelt? Muss man ein eigenes Boot haben oder kann man eines leihen? Sollte man das vorher mal geübt haben? Antwort: Ja, sonst ist das ungefähr so, als wäre man mit einem Dreirad auf der Radstrecke. Die Zeit mit Susanne verfliegt. Gerade entdecke ich am Getränkestand zum ersten Mal Anne und Amelie, freue mich über anfeuernde Zuschauer und versuche, wieder zu Susanne aufzuschließen. Ein Helfer hält mich auf und fragt, ob ich zwei Bändchen habe. Natürlich nicht. Die Quadrathleten müssen nur eine Runde laufen. Ich darf noch nicht in den Zielkanal und offenbar ist genau hier der Wendepunkt. Gut zu wissen!

Das alles geht so schnell, dass ich keine Zeit habe darüber nachzudenken, ob ich eine zweite Runde laufen will. Auf einmal bin ich auf der Strecke. Jetzt also wieder alleine, das ist scheiße - Glückwunsch zum Finish, Susanne! Ferdi kommt mir entgegen geflogen. Stark, fast geschafft! Wir klatschen ab und ich halte nach Christian Ausschau. Gab es tatsächlich einen Führungswechsel beim Duell Trainingsweltmeister gegen Kampfsau? Es scheint so. Christian kommt ein paar Minuten später an mir vorbei und sah echt schon mal besser aus. Keine Ahnung, was er auf der letzten Runde durchgemacht hat, im kurzen Moment des Abklatschens nehme ich nur eine gigantische Menge Erschöpfung wahr. Ich versuche, ihn irgendwie zu motivieren, auch er hats gleich geschafft!

Naomi habe ich außer in T1 und zu Beginn des Radelns noch gar nicht gesehen. Eigentlich müsste sie auch längst auf der Laufstrecke sein. Wahrscheinlich wird sie mich gleich während irgendeiner Wanderung überholen. Bis es so weit ist, überhole ich andere Läufer. Gehend. Ich möchte ihnen irgendetwas hilfreiches sagen, aber mir fällt nichts ein. Ich freue mich auf die Verpflegungsstände. Es gibt einige, die Gartenduschen haben und die Helfer fragen jedes Mal sehr zögerlich, ob man eine Dusche möchte. JA! Immer her damit! Ich liebe die Duschen. Das kalte Wasser tut so unglaublich gut. Leider nur sehr kurz, denn sobald ich weiter laufe, freue ich mich schon aufs nächste Mal. Aber irgendwie halten die Duschen mich am Laufen.


Der Wendepunkt. Ich freue mich übertrieben über mein zweites Haargummi, was wiederum die beiden Helfer freut - ist das nicht schön! Am Ende freuen sich alle, Geigen spielen und ein Glitzer-Regenbogen erscheint über Hannover. Oder so ähnlich. Es fängt an zu regnen. Dusche von oben, gehts noch besser? Es ist so absurd, dass ich eigentlich noch könnte, aber nicht mehr will. Und so wandere ich viel, laufe wenig und treffe schließlich Michael. Wir trinken Wasser und gehen zusammen eine Brücke rauf. Oben schlage ich vor, mal wieder zu laufen und meine damit eigentlich nur so lange, bis ich nicht mehr kann oder will. Michael hat andere Pläne mit mir. Wir unterhalten uns über seine Langdistanz, meinen Marathon, die Tatsache, dass das hier meine erste Mitteldistanz ist, dieses und jenes. Ich will ihn nicht aufhalten, aber er lässt sich nicht davon abbringen, mich zu begleiten. Michael ist die neue Susanne.

Sein Tempo ist mir eigentlich ein bisschen zu hoch. Die Beine spielen wunderbar mit, konditionell gehts aber nur so gerade eben, ich muss meine Antworten auf einsilbiges Murmeln beschränken. "Du läufst noch gut!", behauptet er. Haha, ja. Ich weiß, es geht mir ja auch eigentlich gut, ich will nur einfach nicht mehr! Nach der "Enjoy your day"-Nummer sammeln wir einen anderen Läufer auf und ich vermute, dass die beiden sich kennen. Ich bin zu sehr neben der Spur, um nach seinem Namen zu fragen, aber das Stalking in der Ergebnisliste hat ergeben, dass er Knut heißen muss. Michael und Knut unterhalten sich also, während ich einfach nur noch einen Fuß vor den anderen setze, atme und zusehe, an den beiden dran zu bleiben. So bemerkt Knut erst nach ein paar Metern, dass wir eigentlich ein Trio sind und heißt mich dann Willkommen. Ja danke.

Michael plaudert aus, dass ich es noch unter 6:30 Stunden schaffen könnte und Knut behält daraufhin die Uhr im Blick. Ich mache gar nichts außer laufen. Frage nach hinten: "Alles gut bei dir, Maren?" - "Mh." Am letzten Hügel noch ein bisschen gehen, die beiden warten tatsächlich oben. Diese Verrückten. Jetzt habe ich zwei Bändchen, wir gehen nicht auf eine weitere Runde, sondern biegen in den Zielkanal. Ziel! In Sichtweite! Neben Amelie steht jetzt Martinique, meine Freundin aus Braunschweig, die ich viel zu selten sehe. Sie kann sich überhaupt gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich in diesem Moment freue, ihr Gesicht zu sehen. Wie schön, dass sie extra her gekommen ist! Ich will sie am liebsten sofort umarmen, aber die beiden vor mir ziehen gerade nochmal das Tempo an und schieben mich nach vorne. Ich soll zuerst über die Ziellinie laufen. Eskortiert von zwei wildfremden Menschen, die ich vor einer halben Stunde nicht einmal kannte und die auf den letzten Kilometern alles dafür getan haben, damit ich das Ziel so erreiche, wie man verdammt nochmal eine Ziellinie erreichen sollte: komplett im Arsch, aber verdammt glücklich.


Die guten letzten Laufkilometer lassen mich vergessen, dass ich 2:29:11 für den Halbmarathon gebraucht habe - das ist sogar noch langsamer als mein allererster vor eineinhalb Jahren, aber das spielt einfach überhaupt rein gar keine Rolle. Was zählt, ist die bittersüße Mischung auf den letzten Metern, auf denen alles so nah beieinander liegt: Anstrengung, Kämpfen, Glück, Freude, Dankbarkeit. Und Freunde. Denn die erwarten mich alle direkt hinter der Ziellinie: Ferdi, Christian und Naomi, die komplette Hannover-Gang hat sich versammelt.


Wenn ich die Mitteldistanz mit dem Marathon vergleiche, bin ich überrascht, wie verhältnismäßig leicht mir der Lauf gefallen ist, während der Triathlon mit seiner Länge und Komplexität einfach eine andere Hausnummer ist - obwohl so viel Radeln dabei ist, was mir ja eigentlich in die Karten spielt. Die Herausforderung mit der Verpflegung hat Dank Science in Sport super geklappt, Dankeschön an dieser Stelle für die Unterstützung in dieser Saison! Sechseinhalb Stunden Sport ohne Magenprobleme sind absolut nicht selbstverständlich. Ob ich das Ganze nochmal brauche, weiß ich noch nicht - auch das war nach dem Marathon anders. Klingt blöd, aber da wusste ich beim Überqueren der Ziellinie, dass das nicht alles sein kann und das ich das nochmal machen werde. Mitteldistanz? Keine Ahnung.

Nach einer Woche finde ich es immer noch krass, was das Ganze mit meinem Kopf gemacht hat. Gar nicht mal so sehr mit dem Körper - abgesehen von zwei Tagen leichtem Muskelkater, einer blöden Druckstelle vom Chipband und ein paar Tagen Müdigkeit hatte ich keine Nachwirkungen. Die Lust aufs Radeln ist auch schon wieder zurück. Was mich extrem fasziniert, ist dieser Zustand fern von Zeit und Raum, während der Kopf sich ausschaltet und den Körper funktionieren lässt. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich die drei Stunden auf dem Rad alleine rumgekriegt habe. Ich weiß nicht, wieso ich noch auf die Laufstrecke gegangen bin. Wieso ich die zweite Runde gelaufen bin. Ich habe nichts davon bewusst entschieden, sondern einfach gemacht. Ich bin so dankbar für die drei wunderbaren Begegnungen auf der Laufstrecke: Ohne Susanne, Michael und Knut hätte ich es mir einfacher gemacht. Ihr seid Schuld am Glücksgefühl auf der Ziellinie, das ich so noch bei keinem Finish erlebt habe. Und als ob es irgendeine Rolle spielt: 06:28:03 Stunden! Danke dafür!

Es gab übrigens keine offiziellen Medaillen, sondern Rucksäcke als Finisher-Präsent. Weil es aber irgendwie scheiße ist, für die erste Mitteldistanz keine Medaille zu bekommen, hat Christian für das gesamte Mission-Hannover-Team etwas vorbereitet.
Was für eine Gang!