Mittwoch, 23. August 2017

Raceday No. 42 + 43 - Rad Race Battle + Cyclassics Hamburg 2017

"Alter Schwede, manche studieren Philosophie, du fährst stattdessen Rad." Kommt am Ende was Ähnliches bei raus, wie meine Freundin Steffi treffsicher feststellt. 120 Kilometer bieten aber auch verdammt viel Zeit, über dies, das und jeden Baum am Straßenrand nachzudenken. Gibt es eigentlich Leute, die den Kopf einfach ausschalten und Rennen fahren? Ich weiß auch nicht, was da zwischen meinen Ohren los ist, auf jeden Fall hat Hamburg für mich den einen oder anderen Erkenntnisgewinn und ein paar Tränchen bereit gehalten.

Foto: Getty Images for CYCLASSICS
Gelernt auf der 120er-Cyclassics-Runde:
1. Ältere Männer stellen die größte Menge der Teilnehmer. Sie heißen Hans-Dieter, Hans Georg, Hans Heinrich, Hans-Jürgen und Hanswalter (ja, ein Wort!). 
2. Ein Rennen über 120 Kilometer sollte man anders angehen als ein 25 Kilometer Kriterium. Pro Tipp: Nicht direkt zu Beginn mit dem Puls am Anschlag.
3. Die Köhlbrandbrücke ist überhaupt gar kein bisschen schlimm, sondern wunderwunderwunderschön. Und der Ausblick erst.
4. Wenn du keine Gruppe hast, hast du keine Gruppe.
5. Du hast den Bezug zur Realität noch nicht komplett verloren, wenn dir beim Kilometer rückwärts zählen noch auffällt, wie absurd es ist, sich über "Nur noch 70 Kilometer!" zu freuen.
6. Es gibt sehr große Menschen, die sehr große Rahmen fahren. Extrem große Rahmen. So groß, dass nicht etwa der Hintern oder untere Rücken des Fahrers auf Augenhöhe ist, wenn man direkt dahinter fährt, sondern die Sattelstütze. Im Ernst. Faszinierend. Wenn das Tempo nicht passt, muss man aber leider auch den größten Windschattenspender zurücklassen.
7. Klammere dich in den Hügeln nicht einzig und allein an den Gedanken, dass die letzten 40 Kilometer flach nach Hause führen, denn dann hast du die Rechnung ohne den Wind aus der Hölle gemacht.

Foto: Getty Images for CYCLASSICS
8. Auf 15 Kilometern geradeaus neben dem Deich kann der Wind von vorne, von der Seite, von oben und von unten kommen. Aber niemals von hinten. 
9. Ein Stück Heimat kann dir in jeder Situation den Arsch retten. Wenn bei Kilometer 110 jemand im Cycling Club Düsseldorf Trikot vorbei zieht, während du auf dem Zahnfleisch gehst, dann musst du dranbleiben, dich beschweren, ihn noch nie zuhause gesehen zu haben und diese Begegnung so enorm feiern, dass sie den Gegenwind auf den letzten zehn Kilometern fast vergessen lässt. Fast. 
10. Wenn das Hafenmanagement HPA per LED-Anzeigetafel allen Teilnehmern der Cyclassics viel Erfolg wünscht, ist das eine gute Gelegenheit, sich den Kopf über Erfolg zu zerbrechen. Können alle Erfolg haben? Müssen nicht einige scheitern, damit andere erfolgreich sind? Sorgen nicht erst die hinteren Plätze in der Ergebnisliste dafür, dass die vorderen gut aussehen? Ist Erfolg überhaupt das Gleiche wie gewinnen? Habe ich nicht auch Erfolg, wenn ich mein eigenes Ziel erreiche, vollkommen unabhängig davon, was die anderen machen? Ist es nicht auch Erfolg, mit einem bestimmten Gefühl die Ziellinie zu überqueren?

Foto: Getty Images for CYCLASSICS
Während mir klar wird, was Erfolg für mich bedeutet, setzt sich ohne Vorwarnung Marcus Wiebusch' unverkennbare Stimme mit "48 Stunden" in meinem Ohr fest und geht da erst mal nicht mehr weg.

Mach immer was dein Herz dir sagt
immer was dein Herz dir sagt
mach immer was dein Herz dir sagt
und begrab' es an der Biegung des Flusses  

Mach immer was dein Herz dir sagt
Da muss viel mehr Weisheit in mich rein
ich weiß genau dein Herz ist gut
und weiß ganz genau meins wird zu Stein 

Vielleicht ist der Song alles andere als positiv und motivierend, ziemlich sicher hat er auch rein gar nichts mit Sport zu tun. Vielleicht habe ich aber erst vor zwei Tagen beim 15 Jahre Grand Hotel van Cleef Festival Kettcar in Hamburg gesehen (was an sich schon eine famose Kombination ist), und vielleicht sind es aus irgendeinem Grund genau diese hartnäckigen Zeilen, die mich dranbleiben lassen. Der Kopf sieht schon längst keinen Sinn mehr darin, zu kämpfen, der Körper wüsste gerade auch tausend Sachen, die er lieber machen würde als radfahren, aber das Herz will weitermachen. Scheiß auf die Krämpfe im Oberschenkel, auf die Sitzprobleme, auf all den Wind, auf die nicht vorhandene Gruppe. Fahr so gut du kannst. Mach immer, was dein Herz dir sagt.


Fotos vom Rad Race: Christian Siedler
Zurück zum Erfolgsthema, Überleitung zum Rad Race Battle am Samstag. 190 Meter Sprint. Ich scheide schon in der ersten Runde aus - und zwar mit einem gigantischen Rückstand, von dem mir gar nicht bewusst war, den auf einer so kurzen Strecke sammeln zu können. Das ist wohl Pech bei der Auslosung, wenn man schon in der ersten Runde gegen die später Drittplatzierte ran muss, aber: ansonsten wäre halt in der zweiten Runde Schluss gewesen. Was viel wichtiger ist: Der ganze Quatsch macht trotzdem Spaß. Beim Rad Race sind die Leute cool, du gehst einfach hin, hängst dein Rad auf, stellst dich irgendwo dazu und kommst ins Gespräch. Tatsächlich hat mein Bericht aus dem letzten Jahr wohl die eine oder andere Teilnehmerin motiviert, sich selbst an den Start zu stellen - das ist ein sehr, sehr schönes Gefühl!

Foto: Christian Siedler
Zahlen und Ziele für die Cyclassics: Ich wollte die 120 Kilometer gern in 3:25 Stunden fahren, 35er Schnitt. Das hat nicht geklappt. Gründe stehen oben viele und ich habe eine Weile gebraucht um mich damit abzufinden, dass ich nicht alles in der Hand habe. Ich kann mein Training, meine mentale Verfassung und meine Verpflegung beeinflussen, natürlich drei extrem wichtige Faktoren. Die äußeren Bedingungen kann ich mir jedoch nicht aussuchen - und obwohl ich Wind eigentlich echt gerne mag, hätte ich mir für Sonntag lieber etwas weniger gewünscht. Und wenn ein Radrennen ein Wunschkonzert wäre, dann hätte ich nicht nur vereinzelte Mitstreiter, sondern auch die perfekte Gruppe gehabt, nicht zu schnell und nicht zu langsam, mit der ich bis ins Ziel gerauscht wäre. Isset aber nich. Dass mein Ziel nicht zu hoch gesteckt war, zeigt mir allerdings das Ergebnis.

Vielen Dank für das Foto an den wunderbaren Erik, dem ich gleich zweimal zufällig über den Weg gelaufen bin. Er ist einer der vielen Helfer, die Startunterlagen verteilt, Beutel entgegen genommen und Medaillen umgehängt haben. Danke! 
Herausgekommen sind 3:33 Stunden, 33,8 km/h. Platz 79 von 480 gesamt und Platz 15 von 68 in der Altersklasse. Fühlt sich nicht wie Erfolg an, ist es aber irgendwie doch. Ich bin mit 120 Kilometern meine bisher längste Strecke am Stück geradelt. Ich wollte oben auf der Köhlbrandbrücke die Welt umarmen, oder zumindest Hamburg. Ich habe beim Start morgens um 8 im kühlen, aber sonnigen Hamburg gefühlt, gedacht und gesagt, dass es nichts gibt, was ich gerade lieber machen würde. Deshalb: Mach immer, was dein Herz dir sagt.

Foto: Getty Images for CYCLASSICS
Mehr von Christians Fotos vom Rad Race Battle gibt es hier. Unbedingt reinschauen!

Wie geht's weiter mit der Saison 2017? Nun, das Herz sagt natürlich Radfahren. Und deshalb freue ich mich sehr auf den Münsterland Giro am 3. Oktober, weil das Rennen letztes Jahr unheimlich schön war und es dieses Jahr für mich gleich doppelt besonders ist - mehr wird noch nicht verraten. Absolute Empfehlung auf jeden Fall!
Vorher traue ich mich allerdings noch in neues Terrain und fahre am 9. September mein erstes MTB-Rennen beim Vulkanbike in der Eifel. Nachdem die Coffee & Chainrings Bande mir lange genug gut zugeredet hat, freue ich mich auf eine komplett neue Herausforderung und bin gespannt, wie Beine und Kopf auf Höhenmeter und Gelände so klarkommen. Es könnte kaum besser passen, denn am 7. September legt die Cyclingworld ihre Cyclocross Challenge neu auf und so werde ich mit Karlson noch ein bisschen Querfeldein-Rennluft schnuppern - dieses Mal auch ohne Halbmarathon davor. Ich freu mich drauf!