Freitag, 26. Mai 2017

Raceday No. 35 - Metro Marathon Düsseldorf 2017

Wer gerade erst einsteigt, dem sei gesagt: Ich wollte nie Marathon laufen. Aber dann stand ich 2016 als Helfer an der Ziellinie beim Metro Marathon in Düsseldorf und schon war es um mich geschehen. Alles zur heimlichen Vorbereitung habe ich von Juni 2016 bis April 2017 in zwei Artikeln mit geschrieben: Teil 1 und Teil 2


Seit fast vier Wochen liegt der Marathon-Artikel nun wie ein leeres Blatt im Entwürfe-Ordner. Ich finde keinen Einstieg. Der Kopf hat noch nicht fertig sortiert, ich weiß nicht genau, was dieser Lauf für mich ist, was er bedeutet. Ich weiß nur, was er nicht ist: Ich habe mir keinen Traum erfüllt. Es ist nicht so, als hätte ich mir schon immer ausgemalt, irgendwann einmal einen Marathon zu laufen. Wozu auch? Ich hätte vor drei Jahren niemals mit dem Laufen angefangen, wenn das Ziel 42,195 Kilometer gewesen wären. Viel zu weit weg. Viel zu utopisch. Viel zu absurd.

So schnell kann sich das ändern. Seit Anfang des Jahres läuft die Marathonvorbereitung. Ich habe nie ernsthaft daran gezweifelt, ins Ziel zu laufen. Aber dass das Ganze aber auch keine Kleinigkeit ist, merke ich spätestens an meinem Zustand in der Woche vor dem Lauf. Ich bin zart besaitet, launisch, leicht in alle Richtungen zu beeinflussen. Das erkennt nach dem ersten (und einzigen) richtigen Tiefpunkt zum Glück auch meine Freundin Steffi, dir mir von da an einfach jeden Tag schreibt, ich sei super. Was ich zuerst übertrieben finde, wirkt. Schöne Gehirnwäsche. Außerdem trudelt ein Päckchen bei mir ein, das ich ohne ihre Erlaubnis nicht öffnen darf. Stattdessen beäuge ich es von allen Seiten und drücke darauf rum. Am Abend der Pastaparty kommt dann endlich ihre Freigabe: Ich packe zwei Metallplättchen aus, die man in die Schnürsenkel friemeln kann. Was ein Quatsch - eigentlich. Aber auf meinen Exemplaren steht: "she believed she could" und "so she did". Und damit treffen sie exakt den Kern dieser ganzen Marathon-Sache. Ich mag das Wort "glauben" nicht, weil ich Sachen entweder weiß oder nicht weiß, alles andere ist Blödsinn. Aber die Idee ist die gleiche: Ich habe es für möglich gehalten, einen Marathon zu laufen, und deshalb werde ich genau das machen.


Raceday. Guten Morgen Marathon. Ich habe gut geschlafen, richtig gut. Bin zwei Minuten vor dem Wecker wach und gut gelaunt - das passiert morgens selten. Da ist keine Angst, keine negative Spannung, eher dieses Gefühl, gut für eine Prüfung gelernt zu haben und sie nun endlich schreiben zu wollen. Allerdings ist da auch kein Appetit. Zum Frühstück zwinge ich mich trotzdem. Mich erreicht eine Sprachnachricht, die mich auf dem Weg zur U-Bahn zu Tränen rührt. Scheiße, fange ich jetzt schon an zu heulen, bevor es überhaupt los geht?

Ich bin in der Altstadt mit Christian verabredet, vor McDonalds, wo sich normalerweise die coolen Kids treffen, bevor sie die längste Theke der Welt unsicher machen. Das steht auch noch auf meinem Programm für heute, dazwischen liegen nur noch 42 Kilometer und ein paar Stunden. Praktisch am Düsseldorf Marathon: Wenn du ins Ziel kommst, bist du direkt in der Altstadt. Fein.



Vor dem Start muss ich noch meinen Kleiderbeutel abgeben, was eine verdammte Ewigkeit dauert, und natürlich obligatorisch aufs Dixi. Auch diese Schlange zieht sich, das Timing passt aber perfekt. Ich kann gerade noch meine Eltern begrüßen, mich in den Startblock stellen und muss dann nicht lange warten, bis es losgeht. Hab ich schon erwähnt, dass ich eher kleinere Veranstaltungen vor der Haustür sehr liebe? An der Startlinie stehen nur etwas mehr als 2600 Marathonläufer. Etwas später folgen uns fast genauso viele Staffeln. Countdown, epische Musik, Startschuss. Los gehts.







Sobald die Musik aus dem Startbereich nicht mehr zu hören ist, wird es still. Die Action am Streckenrand ist überschaubar, ein paar Läufer unterhalten sich, die Atmosphäre ist friedlich und ruhig. Allerdings nur so lange, bis bei Kilometer 1 ein älterer Herr oben auf seinem Balkon zwei Topfdeckel mit voller Inbrunst gegeneinander schlägt. Fantastisch!

Ich habe mir eine 6:20er Pace vorgenommen. Sollte ich die halten können, stünden am Ende 4:27 Stunden auf der Uhr. Unter 4:30 Stunden fände ich schön, bin heute aber tatsächlich nicht so krampfig auf irgendeine Zeit fixiert. Das ist beim ersten Mal wohl ziemlich vernünftig. Dass die 6:20 min/km sich am Anfang erst einmal wie schleichen anfühlen, habe ich geahnt und trabe daher den 4:30 Pacemakern hinterher. Das klappt gut, bis die gesamte Gruppe bei Kilometer 5 am ersten Verpflegungsstand anhält. Ich will nichts trinken und schon gar nicht stehen bleiben und laufe daher alleine weiter.

Ich fühle mich gut, denke nicht daran, was noch alles vor mir liegt, sondern trabe in diesem fluffigen Tempo einfach weiter vor mich hin. Vorbei an meinen Eltern, an Kati und Naomi und durch das Viertel, in dem ich arbeite. Ein sehr dicker Mann hockt auf einem Campingstuhl am Streckenrand, Bier in der Hand, auf dem Tisch neben ihm steht das Fässchen. Er scherzt: "Da bekomm ich ja fast Lust, auch mitzulaufen!" Düsseldorf, du punktest vielleicht nicht durch bombastische Stimmung, aber du bist auf deine ganz eigene Art unheimlich charmant!


Es geht über die Oberkasseler Brücke rüber auf die andere Rheinseite. Auf der Brücke fahren auch U-Bahnen, was die japanischen Läuferinnen vor mir scheinbar derart fasziniert, dass sie erst einmal für ein Foto mit der Bahn posieren. Okay. Kilometer 15 und mir wird langweilig. Dass hier hinten auf diesem Teil der Strecke der Hund begraben sein würde, war mir klar. Dass allerdings schon so früh ein Anflug von keine Lust mehr kommt, ist ungut. Ich schaffe es, die negativen Gedanken zu stoppen. Überlege mir, wie oft ich hier am Rhein schon entlang geradelt bin, was diese wahnsinnig schnellen Staffelläufer eigentlich für schöne Beine haben, dass ich hier in dieser Nebenstraße mal einen Babysitterjob hatte, dies und das. Beim Verpflegungsstand bei Kilometer 18 oder 19 komme ich auf die Idee, eine halbe Banane zu essen. Ich möchte sie am liebsten sofort wieder ausspucken, denn die matschige Pampe wird im Mund immer mehr. Ich kriege den Bananenmatsch beim Laufen kaum runter und ärgere mich, nicht einfach bei den erprobten Gels geblieben zu sein. Ab jetzt erst mal trinken, trinken, trinken, weg mit dem ekligen Bananenzeug.

Halbmarathonmarke. 2:12 Stunden - gut eineinhalb Minuten vor der geplanten Zeit, aber überpacen ist auch anders. Also locker weitermachen. Endlich ist am Streckenrand mal mehr los: Ich klatsche Kinderhände ab und freue mich, dass es gleich zurück über den Rhein auf die andere Seite geht. Die Brücke erstickt die Freude, denn der Wind gibt mir das Gefühl, kein bisschen von der Stelle zu kommen. Die Aussicht lässt mir allerdings das Herz aufgehen: Der Blick auf Düsseldorf, die Altstadt, den Schlossturm, den Rheinturm, dazwischen das Ziel - ich bin jetzt so nah dran, aber muss noch 21 Kilometer laufen. Runter von der Brücke, zwischen den Häusern pustet der Wind nicht mehr so wahnsinnig stark. Zum inzwischen dritten Mal laufe ich an meinen Eltern vorbei, deren Aufgabenverteilung immer noch die gleiche ist: Papa fotografiert und Mama klatscht Beifall. Hach!


Bei Kilometer 25, irgendwo in der Nähe der Kö, rechnet ein Spaßvogel hinter mir seinem Nebenmann vor: "Nur noch 17 Kilometer!" Ich würde ihn gern erschlagen. So langsam wird es anstrengend und ich ahne, dass ich für die zweite Hälfte etwas mehr Zeit einkalkulieren muss. Ich schiele auf die silbernen Plättchen in meinen Schnürsenkeln. Kann die Aufschrift beim Laufen nicht lesen, aber sage mir den Spruch wie ein Mantra immer wieder vor. Zähle die Silben. Eine bei jedem Schritt. Und wieder von vorn. Es sind übrigens acht. Völlig überraschend stehen Naomi und Kati bei Kilometer 27 - damit hatte ich nicht gerechnet. Die Begegnung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, ich nehme einen ordentlichen Energieschub mit über die Eisenbahnbrücke und sehne dann den nächsten Verpflegungsstand bei Kilometer 28 herbei. Die Brehmstraße empfängt mich mit Wind aus der Hölle. Hier pustet es mindestens so schlimm wie auf der Brücke, nichts geht mehr und laufen erscheint mir komplett absurd. Ich nehme zwei Becher, einmal Wasser und einmal Iso, und gehe zum ersten Mal. Gehen und trinken. Trinken und gehen. Die Temperaturen sind auszuhalten, obwohl es heute ganz schön warm ist, aber dieser verdammte Wind raubt mir echt die Körner.


Ich mag den Teil der Strecke, der jetzt kommt, sehr. Um den Zoo-Park, Hans-Sachs-Straße, das Viertel ist einfach schön. Die Anwohner veranstalten ein kleines, aber feines Straßenfest bei Kilometer 30 und ich würde das alles einfach gern mehr genießen. Mein unterer Rücken sieht das anders und zwingt mich bei Kilometer 31 zu einer Gehpause. Ich weiß, dass ich es bis zum Wehrhahn schaffen muss, dass bei Kilometer 32 Christian auf mich wartet. Dass ich von dort noch 10 Kilometer laufen muss, ist ein anderes Thema, erst einmal heißt das Ziel: irgendwie am Wehrhahn ankommen. Ich versuche mich abzulenken, indem ich nach den Jungs aus der Staffel Ausschau halte. Gestern bei unserer Pastaparty haben wir versucht zu berechnen, wer mich wann überholen müsste (das hat ja in Mathe mit den Zügen auch noch nie geklappt) - eigentlich sollte es jetzt langsam so weit sein. Ich sehe keinen, stattdessen überholen mich die 4:30 Pacemaker.

Christian steht wie verabredet am Streckenrand und wird mich ab jetzt begleiten. Als er vor 10 Monaten angeboten hatte, ein paar Kilometer mit mir zu laufen, war ich nicht sicher, ob ich das möchte. Ich dachte, es würde sich nicht richtig anfühlen, den Lauf nicht alleine zu schaffen. Dass ich meine Beine trotzdem selbst zu jedem Schritt überreden muss und mir das keiner abnimmt, ist mir dann irgendwann auch klar geworden, also habe ich zugesagt. Ich wusste außerdem nicht, ob ich möchte, dass mich jemand nicht nur kurz im Vorbeilaufen, sondern einige Kilometer lang leiden sieht. Jetzt weiß ich: Diese Unterstützung ist unbezahlbar. Wir laufen mal nebeneinander, mal hintereinander, ich höre mir an, wie es bei der Staffel bisher gelaufen ist und versuche, nicht zu detailliert auf meinen Wehwehchen rumzureiten. Nach kurzer Zeit muss ich dann aber doch gehen und bin froh, dass ich keine vorwurfsvollen oder mitleidigen Blicke ernte, sondern einfach mein Ding machen kann. Die Rückenschmerzen kann ich nicht mehr ignorieren, auch die Botschaft "no hay dolor", die an Christians Rucksack klebt, hilft nicht. Doch, es gibt sehr wohl Schmerz. Er ist im Rücken, im Knöchel und im Magen. Ich versuche, mich nicht darüber zu ärgern, dass ich aus dem Training keine derartigen Schmerzen kenne, dass ich 35 Kilometer locker laufen konnte. Jetzt ist es eben anders. Deal with it. Ich gehe, wenn ich gehen muss und ich laufe, wenn ich laufen kann.




Kilometer 34, schon wieder stehen meine Eltern am Streckenrand. Zum ersten Mal bin ich dankbar, dass Christian mir nicht nur Gesellschaft leistet, sondern auch noch seine Kamera mitschleppt. 500 Meter später sehe ich überraschend das nächste bekannte Gesicht: Daniel von Coffee & Chainrings, den ich bald bei seiner 24h-MTB-Weltmeisterschaft in Italien unterstützen werde, steht mit seiner Tochter am Rand. Und er macht das, was er immer macht: ein Live-Video. Als ich ihn entdecke, wandere ich gerade die Berliner Allee hinauf und drücke mir das dritte und letzte Gel hinein, weil der Magen langsam endlich besser wird. Live-Video vom Marathon und dann erst mal spazieren? Ups. Ich nehms mal als Anlass, weiter zu laufen.




Kilometer 36. Hier gibt es Orangenscheiben. Ich will auf keinen Fall nochmal den gleichen Fehler wie mit der Banane machen, aber so ein Stück Orange wird ja wohl klar gehen? Und wie. Oh Mann, wenn das mal nicht die beste Orangenscheibe auf der ganzen Welt ist! Ab jetzt wird die Strecke nochmal richtig schön, typisch Unterbilk. An der Bilker Kirche stehen so viele Leute, dass ich meine Kollegin Lena übersehe, die mit Laufen eigentlich gar nichts am Hut hat, aber extra ein "ichhasselaufen"-Plakat gebastelt hat. Genau das ruft mir unabhängig davon wenige Hundert Meter weiter ein Streckenposten zu. Wie witzig ist das denn? Später stellt sich heraus, wir "kennen" uns von Instagram. Falls du jetzt hier mitliest, vielen Dank!









Rücken und Knöchel sind inzwischen wieder ruhiger, das Laufen wird wieder flüssiger. Die letzte kurze Gehpause lege ich bei Kilometer 39 ein, danach fühlen sich die Beine plötzlich an wie neu und ich freue mich, dass das Laufen keine Qual mehr ist. Sieht mit Sicherheit anders aus, aber fühlt sich wunderbar an! Die Stelle, die ich mir am schlimmsten vorgestellt habe, geht auch vorbei: Bei Kilometer 39 ist der Zieleinlauf beinahe in Sichtweite, Läufer auf Kilometer 41 kommen mir entgegen und ich muss noch einmal in die falsche Richtung abbiegen. Noch ein Schlenker über die Kö, natürlich. Ich sehe Naomi, Kati, Daniel und Renate und ich habe einfach wieder Bock, zu laufen.




Wieder abbiegen, jetzt bin ich diejenige, die den anderen mit zwei Kilometern Vorsprung entgegen kommt. Ein Aufkleber auf dem Boden kündigt an, dass noch ein Kilometer zu laufen ist. Mir geht es prima. Ich spüre schon längst keine Schmerzen mehr, die Beine fühlen sich unnormal gut an. Ich sehne die Ziellinie nicht um jeden Preis herbei, aber so langsam fällt der Groschen, dass ich tatsächlich gleich ins Ziel laufen werde. Achso.





Das Gefühl, dass es nicht zu einfach war, aber dass es mir jetzt trotzdem so gut geht, macht mich zufrieden. Ich habe gekämpft, aber ich bin nicht komplett am Ende, sondern konnte die letzten Kilometer genießen und ganz besonders die letzten Meter. Ich freue mich seit der Anmeldung auf den Moment, wo ich vom Apolloplatz runter zum Rhein abbiege, mit Blick auf die Altstadt, auf die andere Rheinseite, das Ziel in Sichtweite. Ich bin dankbar und froh, dass ich ausgerechnet hier nicht mit jedem Schritt leide und jeden Meter verfluche, sondern dass sich das Laufen auf wundersame Weise wieder gut anfühlt.



Ganz im Ernst: Ich kann mir keinen schöneren Zieleinlauf vorstellen als direkt am Rhein. Dafür kann man schon mal 4:38:12 Stunden durch die Stadt laufen/wandern/traben. Die Entscheidung, zuhause den ersten Marathon zu laufen, war absolut richtig. Und auch, das Ganze vorher nicht groß anzukündigen, hat mir enorm geholfen, den Druck rauszunehmen. Das war mein halbwegs heimliches Projekt, das ich gern etwas kleiner gemacht habe, als es tatsächlich war. Ich habe es geschafft, beim Lauf nicht an 42,195 Kilometer zu denken, nicht an das Wort Marathon. Beides hat in mir in den Tagen zuvor eine schräge Mischung aus Respekt und Kribbeln hervorgerufen, als sei es etwas Großes, ein Mythos. Am Ende ist die genaue Distanz komplett willkürlich, im Prinzip geht es nur darum, ein paar Stunden zu laufen und damit umzugehen, was während dieser langen Zeit so alles passieren kann. Ich bin stolz, dass ich das so gut wie möglich gemacht habe, aber ein anderes Gefühl überwiegt. Ich bin dankbar, dass ich in der Lage dazu bin. Gesundheitlich, körperlich und mental. Dankbar, dass ich mit einem solchen Projekt nicht alleine bin, dass meine Familie und meine Freunde mitfiebern, dass sie auf ihre Art und Weise dabei sind, egal ob sie 600 Kilometer entfernt sind, am Streckenrand stehen, mit mir laufen oder danach mit mir anstoßen. Nichts davon ist selbstverständlich. Danke!




Sämtliche Fotos oben und das Bei-Laune-Halten während der letzten Kilometer geht auf die Kappe von Christian Siedler. Danke dafür!


Glückwunsch an die lustigste, coolste, raketenschnellste Staffel, die ich mir vorstellen kann. Bis zum nächsten Mal!