Mittwoch, 11. November 2015
Raceday No. 8 - Halbmarathon Martinslauf
Das Halbmarathon-Wochenende ist da. Der Samstag hält für mich nur selbstverordnetes Nichtstun bereit und ich erwische mich bei dem Gedanken, wie nett es doch wäre, jetzt eine Runde laufen zu gehen. Nicht so weit, einfach nur ein Stündchen durch den Herbstwald traben. Nix da. Ein paar Stunden später juckt es mir dann nochmal extrem in den Fingern, denn samstags ist Schwimm-Tag und Wasserballtraining. Heute ohne mich, denn die Erkältungssymptome, die meine Chlor-Überempfindlichkeit hervorruft, kann ich jetzt absolut nicht gebrauchen. Aber ich würd so gern!Sonntag. Aufwachen. Umdrehen. Weiterschlafen. Schön wärs. Ich habe keine Lust. So gar keine. Nicht aufs Austehen und schon gar nicht aufs Laufen. Das sind ja prima Voraussetzungen. Start ist erst um 11.45 Uhr, also noch genug Zeit, im Bett rumzulümmeln, zwei Marmeladenbrote zu frühstücken und mich dann mal ganz gemächlich anzuziehen. Boah, muss das heute sein? Gestern wäre ich gerne gelaufen!
Am Start ist die Hölle los und bin extrem froh, dass ich die Nummern schon vorab in der Stadt abgeholt habe. Über 3000 Läufer sind für die verschiedenen Distanzen gemeldet - der Trubel ist riesig. Ich renne noch zweimal aufs Dixi, beklatsche die Bambinis (die sind aber auch süß! Und von Freudestrahlen bis Weinen ist alles dabei) und dann finde ich mich plötzlich auf dem Weg zur Startlinie wieder. Wie schnell das dann immer geht.
Neben mir stehen Naomi und mein Vater, die beide eine schnellere Zeit als ich anpeilen: 10 bzw. 5 Minuten wollen sie früher im Ziel sein. Die ersten Meter nach dem Start ist es einfach übertrieben voll, die Wege sind schmal und die Läufer zahlreich. Sobald Platz ist, wieselt Naomi uns wie geplant davon. Mein Vater bleibt noch eine Weile neben mir, was mich etwas irritiert - ich bin ganz sicher, dass mein Tempo nicht zu schnell ist. Schließlich legt er ein ganz kleines bisschen zu und ich gehe nicht mit. Sehen kann ich ihn trotzdem noch eine Weile nur wenige Meter vor mir und frage mich, ob er eigentlich weiß, dass ich immer noch so nah dran bin.
Mein Schienbein schmerzt und die Achillessehne zwickt - muss das jetzt sein? Damit war doch während der letzten Läufe wieder Ruhe. Das kann ja was geben. Nach 3 km hört zum Glück beides auf und so bleibe ich bei meinem geplanten Tempo: 6:35 min/km. Strava misst irgendwas anderes, aber was ich mir während des Rennens mit dem Kilometerschildern und meiner Uhr zusammenrechne, ist exakt so, wie es sein soll. Bis auf km 4. Der ist einfach nicht da. Zu der Zeit, als ich laut Uhr das Schild sehen müsste, ist da kein Schild. Dafür verkündet das Runtastic meines Nebenmannes, dass nun 4 km geschafft seien. Schön. Aber wo ist das Schild? Ich halte die Augen weiter offen. Da ist echt keins. Es muss aber schon vorbei sein. Schon längst. Jetzt aber wirklich. Dann kommt das Schild mit der 5. Sehr witzig. Nun gut, zählen wir halt ab hier weiter wie gehabt.
Ich trabe hinter der einen oder anderen Gruppe her, überhole, wenns mir zu langsam wird, und werde auch überholt. Ein Läufer spricht mich auf Laufen gegen Leiden an und erzählt, er sammele für irgendwas Kilometer, das Tempo sei ihm eigentlich schon zu scharf, er wolle ja nur ankommen und dann rennt er weg. Aha. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht stehenbleibe und Fotos mache, denn der Wald hier ist echt wunderschön. Bis auf die Läufer menschenleer und teilweise liegen so viele Blätter auf dem Boden, dass der Weg kaum zu sehen ist - netterweise haben die Veranstalter Unebenheiten aber in Neonfarben markiert. Es ist unheimlich warm, ich bin mit T-Shirt und kurzer Hose unterwegs, es fühlt sich an wie Frühling und riecht nach Herbst.
Hier sind einige Spaziergänger unterwegs - die Laufstrecke ist nicht abgesperrt, aber die meisten machen sofort Platz. Das funktioniert soweit alles gut, aber ich merke, dass es langsam anstrengend wird. Und zwar nicht nur für den Körper, sondern auch den Kopf. Meine Rechnerei funktioniert nicht mehr. 6 Minuten und 35 Sekunden auf die Zeit addieren, die beim Kilometerschild auf der Uhr steht, ist plötzlich eine echte Herausforderung. Selbst mit Fingern als Hilfe. Und wenn ich dann endlich die Zeit ausgerechnet habe, die ich beim nächsten Schild sehen möchte, habe ich sie schon wieder vergessen. Ich kann aber auch nicht nochmal von vorne anfangen, weil ich längst nicht mehr weiß, was die Uhr eben angezeigt hat. Eine GPS-Uhr wäre vielleicht mal eine Überlegung wert, die könnte mir dann die Pace anzeigen. Bisher hatte ich aber mit der Rechnerei immer eine tolle Beschäftigung, die mich abgelenkt hat. Jetzt gebe ichs auf. Ich merke, dass ich langsamer machen muss und kann mir ja sowieso nichts mehr merken.
Mein ursprüngliches Ziel war, unter 2:20 zu bleiben. Bei km 15 weiß ich, dass das nichts mehr wird. Plötzlich geht es ums Ankommen: Ich habe Gänsehaut, friere trotz 15° und Sonnenschein ziemlich und kann offensichtlich nicht mehr klar denken, zumindest nicht mehr addieren und mir zwei Zahlen merken. Dass die Gänsehaut überhaupt nicht mehr verschwindet und sich die Beine dazu anfühlen wie Pudding, zwingt mich zum Gehen. Ich will hier nicht von den Sanis abgeholt werden, sondern selbst ins Ziel kommen. Bisher habe ich es geschafft, alle negativen Gedanken zu verdrängen, aber jetzt gehts los: Noch 6 km. 6! Das ist mehr als eine halbe Stunde, viel mehr, bei deinem Zustand wahrscheinlich mindestens eine Dreiviertelstunde. Mir ist kalt und ich will mich irgendwo hinlegen und zudecken. Es geht jetzt entlang der Landstraße neben dem Wald, was für eine hässliche Strecke und wie lange sich das zieht. Soll hier nicht noch irgendwo eine Getränkestation sein?
Endlich kommt die Getränkestation, meine Rettung. Ich erlaube mir wieder zu gehen und zu trinken. Die beiden anderen traben weiter. Sie will auch gehen, aber er hat ihr schon einen Becher besorgt, sie muss laufen. Ich gehe. Habe sogar genug Zeit, meinen Becher in einen Müllsack zu werfen, der an einem Baum hängt. Wäre auch irgendwie lächerlich, hier lang zu spazieren und den auf den Waldboden zu werfen, als ob man es eilig hätte - ich muss keine Zeit mehr erreichen, ich muss hier nur irgendwie gut ankommen. 17 km. Noch 4. Die Mischung aus gehen und laufen kotzt mich an, es soll jetzt bitte einfach alles vorbei sein, kann ich nicht einfach schon im Ziel sein? Mir ist immer noch kalt, hier im Wald ist auch einfach keine Sonne mehr, ich will das nicht schaffen, ich will es geschafft haben. Ich denke nicht mehr viel, auf die Uhr geguckt habe ich auch schon länger nicht mehr.
Ich überhole gehend einen anderen gehenden Läufer. Also einen Geher. Auf Fahrrädern kommen uns einige entgegen, die schon ihre Medaillen um den Hals baumeln haben und jetzt nach Hause fahren. Schön. Ich möchte auch endlich da sein. Was ein Scheiß. 20 km. Jetzt ist es wirklich gleich geschafft. Ich laufe wieder. Und ich denke jetzt nicht mehr daran, damit aufzuhören. Vielleicht 500 m vor dem Ziel, vor der letzten Kurve, schieben Sanitäter eine Läuferin auf einer Liege über den Weg. Wie bitter. So kurz vor dem Ziel. Ich möchte nicht, dass mir so was passiert. Ich bin enttäuscht, dass es so lange gedauert hat, dass ich so viel gehen musste und dass mein Körper nicht so wollte, wie ich. Aber ich bin gleichzeitig froh, dass ich die letzten Kilometer auf diese blöde Art durchgehalten habe und jetzt ins Ziel laufen kann. Auf meinen eigenen Beinen.
Es ist nicht mehr viel los, ich bin ja auch spät dran. Ich sehe meine Eltern, finde mein Lächeln wieder und laufe weiter. Kurz dahinter steht Naomi mit ihrer Familie, alle strecken ihre Hände aus, ich klatsche sie ab und bin im Ziel. 21,0975 km. So genau kann niemand laufen, also irgendwas um den Dreh. Ich möchte mich am liebsten hinlegen, aber erst mal was trinken. Also zum Getränkestand. Eine Cola wäre jetzt schön, ne kalte Cola voller Zucker. Gibts nicht. Ich nehme ein Wasser, signalisiere Mama kurz, wo ich bin und lasse mich auf die nächste Bank fallen. Da ist nicht so viel Platz für Freude oder Erleichterung, denn ich bin echt hinüber. Und ich hab Durst. Und Hunger. Papa geht die Urkunden drucken lassen und Medaillen besorgen. Ich kann gerade nur sitzen und freue mich über den Weckmann, denn das hier ist der Martinslauf und alle Läufer bekommen einen. Leider schmeckt der echt beschissen und ist unglaublich trocken. Schließlich komme ich doch noch zu meiner Cola, die schmeckt auch nicht, aber ist trotzdem gerade genau das richtige.
Ich mag jetzt mindestens eine Woche lang gar nichts tun. Natürlich hecke ich auch schon Pläne aus, werde demnächst wohl mit der Verpflegung beim Laufen experimentieren und mir außerdem Strategien überlegen, wie ich negative Gedanken während und auch nach dem Rennen fernhalte. Denn dass auch einfach mal alles super sein kann, hab ich ja beim Seelauf gemerkt - gut zu wissen, dass das also auch geht und ich nicht immer chronisch unzufrieden bin.
Aber jetzt gerade bin ich alleine mit dem Gefühl, dass das "nicht so toll" war, und da hilft kein gut gemeintes "aber schau mal, was du Tolles geschafft hast!". Meinem Kopf ist das klar, aber es fühlt sich nicht so an. Was mich stolz macht und rührt, sind die Leute, die vielleicht mehr an mich glauben, als ich selbst manchmal. Der liebe Kollege aus dem Fitnessstudio, dem ich drei Wochen vor dem Lauf erzählt habe, dass ich mich krank fühle. Seine Reaktion: "Auch wenn du jetzt nicht mehr voll trainieren könntest, du schaffst das trotzdem. Du bist ehrgeizig, vergiss das nicht." Christian, daran habe ich oft gedacht. Und dann, Samstagabend, kam auf einmal dieses Bild von der zauberhaften Denise, die extra ein Schild gemalt hat: "Ihr schafft das." Ja. Haben wir.