Mittwoch, 15. Februar 2017

Bicycle Film Festival Düsseldorf 2017

Stell dir vor, es ist Bicycle Film Festival in Düsseldorf und keiner geht hin. Richtig, geht nicht. Trotzdem wollte ich keinen Festivalpass, weil es mir zeitlich gerade einfach in der Klausurphase absolut gar nicht in den Kram passt, vier Tage mit Fahrradfilmen anstatt Lehrbüchern zu verbringen. Prinzipiell finde ich die Idee super, meinetwegen könnten wir uns auch eine Woche lang treffen und übers Radfahren reden, Filme und Konzerte schauen, gut essen und natürlich radeln - aber bitte nicht ausgerechnet jetzt.


Tag 1 - Donnerstag - A Sunday in Hell
Gar nicht hingehen kommt aber auch nicht in Frage, also nehme ich mir vor, beim Warm Up wenigstens mal kurz vorbei zu schauen. Ich will wirklich nicht lange bleiben, nur mal hallo sagen, auschecken, wer so da ist und mich dann wieder zuhause vergraben. Natürlich will ich das nicht, aber die Vernunft hat den Abend so geplant. Das Warm Up bei Carhartt startet mit Freibier, Sandwiches, Fahrrädern zum Angucken, ein paar verwirrten jugendlichen Carhartt-Kunden, die sich wahrscheinlich fragen, was abgeht und einem Haufen netter Fahrradmenschen, die mich sofort in Gespräche verwickeln. Das Schöne in Düsseldorf ist ja, dass hier gefühlt jeder jeden kennt, mindestens vom Sehen, aus legendären Facebook-Gruppen oder über drei Ecken. So gibts immer was zu erzählen, und sei es nur, dass man gleich nicht den Film gucken will, wirklich nicht, sondern eigentlich, jaja, bla bla bla. Glaubt eh keiner. Weil es außerordentlich nette Menschen gibt und noch nettere Menschen zudem meinen, dass ich es aus irgendeinem Grund verdient hätte, bekomme ich einen Festivalpass geschenkt. Einfach so. Ich kann nicht nein sagen, möchte nicht nein sagen, sondern einfach nur danke. Scheiß auf den Plan und ab in den Film.


Im Cinema, mitten in der Düsseldorfer Altstadt, eröffnet Jørgen Leths "A Sunday In Hell" das Festival. Was für ein epischer Titel. Der Höllensonntag ist eine Doku, handelt vom legendären Rennen Paris-Roubaix und stammt aus 1976. Der Film ist auf Dänisch, ständig geben Protagonisten Interviews auf Französisch, die Untertitel sind auf Englisch und irgendwie könnte ich gut noch das ein oder andere Uerige gebrauchen. Immerhin ist meine Sitznachbarin als dänische Muttersprachlerin mehr als zufrieden mit dem Originalton.

 

Ich bin fasziniert vom Radsport in den 70ern - mehr als zehn Jahre, bevor ich überhaupt geboren wurde - und den Rädern, gegen die meine Gabi beinahe modern wirkt. Was für eine andere Welt! Fast keiner fährt mit Helm, die wenigsten haben ein bisschen Schaumstoff auf dem Kopf und all die coolen Kids haben schicke Mützen auf. In der Hölle des Nordens führen von 270 Kilometern Rennstrecke ungefähr 50 Kilometer immer mal wieder über Kopfsteinplaster. Allerdings kein normales Kaiserswerther Kindergeburtstags-Kopfsteinpflaster, sondern die Variante - nun ja, aus der Hölle eben. Gigantisch große Steine und Schlaglöcher so tief, dass das Ausweichen über den Grünstreifen bei einigen Passagen die beste Wahl zu sein scheint. Und über allem: Staub, Staub, Staub.

Ob ein Rennen 1976 oder 2016 stattfindet, ist irgendwie scheißegal, die Spannung ist die gleiche. Nur die Technik eben nicht so ganz. Natürlich fordern die katastrophalen Straßen ihren Tribut. Wer nur mit einem platten Reifen davon kommt, ist hier echt gut dabei. Die Bilder gleichen einem absurden Kriegsschauplatz: Fahrer liegen mit verrenkten Gliedmaßen und schmerzverzerrten Gesichtern am Boden. Weitere Bilder, die man so schnell nicht vergisst: Nach dem Rennen darf die Kamera mit unter die Gruppendusche, unter der die Fahrer sich die Kruste aus Salz und Matsch vom Körper waschen und nebenbei Interviews geben, als sei es das normalste der Welt. A Sunday In Hell kann man sich durchaus mal zu Gemüte führen und sich dran erinnern, wie gut es uns geht mit unseren komfortablen Rädern und dem klein bisschen Dreck auf den Wirtschaftswegen. Ein schöner Start ins Bicycle Film Festival!

Tag 2 - Freitag
Ich schwänze, weil ich eingeladen bin. Aber mein Festivalticket verbringt den Abend nicht alleine zuhause, sondern wird von Alex ins Metropol Kino getragen und sieht sich eine Reihe Fahrrad-Kurzfilme an. Wie ich mehrfach gehört habe, gibt es am Freitag die besten Filme zu sehen.

Tag 3 - Samstag - Freudentränen
Wie schon der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel bei der Eröffnung am Donnerstag angekündigt hatte, findet das Samstags-Programm in einer der coolsten Locations statt, die die Stadt derzeit so zu bieten hat. Die PostPost ist eine gigantische Halle und wurde früher - wer hätte das gedacht - von der Post genutzt. Als ich in der endlosen ehemaligen Versandhalle stehe, würde ich am liebsten direkt mal rausfinden, wie lange ich mit dem Rad vom einen bis zum anderen Ende brauche. Liebes Rad Race Team, könnt ihr hier drin nicht mal ein Battle veranstalten?


Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Das Schöne an der Düsseldorfer Radszene ist, dass du dich mit keinem verabreden musst, sondern einfach irgendwo auftauchst und die anderen sind auch da. Heute gibt es 90 Minuten Kurzfilme auf die Augen, danach für mich einen unheimlich guten Falafelteller und im Anschluss ein Konzert der Grandbrothers auf die Ohren. Ich bin schon nach vier Filmen überfordert, mich an den ersten zu erinnern, versuche alles aufzusaugen und muss mir zwischendurch allen Ernstes Notizen machen. Ich schwanke zwischen "ooh, was für schöne Bilder", "wieso sind Kurzfilme eigentlich so kurz?", "bitte mehr davon!" und "keine Ahnung, was mir das jetzt sagen will" - kurz: für jeden was dabei. Ich bin jetzt ein Fan von Chrystal, dem Einhorn, habe gelernt, dass man mit Fatbikes sehr kamerawirksam Pisten runterbrettern kann, dass die Cyclocrosser den besten Musikgeschmack haben und ich lache Tränen beim Hack Bike Derby. Die Story: 17 Briten basteln für unter 300 Pfund ihre eigenen Räder und tragen an einem Wochenende im Wald auf den abenteuerlichen Gefährten diverse Rennen gegeneinander aus. Der Film strotzt nur so vor urkomischen Szenen mit hemdsärmeligen Engländern und erinnert daran, dass Radfahren einfach verdammt nochmal viel Spaß macht. Mitten ins Herz trifft mich dann noch die Offenbarung eines Rahmenbauers: Ursprünglich sei er nur zum Spaß hier hin gekommen, das einzige vage Ziel war es, alles halbwegs unbeschadet zu überstehen. Aber nun sei es das wichtigste, das Rad nicht zu zerstören - es sei nicht mehr irgendein Rad, was er für den Wettbewerb gebaut habe, sondern (rührselige Augen, liebevolle Stimme): "It's my bike." Ja Mann!

Bild: Alexander Ignasiak
Tag 4 - Sonntag - A little bit of hell round Düsseldorf
Hinter dem Bicycle Film Festival stecken übrigens die Schicke Mütze und das Open Source Festival. Erster Gedanke: Hä? Zweiter Gedanke: Geil, das passt wie die Faust aufs Auge! Passt es wirklich. Das Bicycle Film Festival ist das erste Event im Rahmenprogramm der Tour de France und verknüpft Musik und Film mit Fahrradkultur. Auch Brendt Barbur, der New Yorker Initiator der mittlerweile weltweit bekannten Festivalreihe, turnt an diesem Wochenende in Düsseldorf herum. Den wichtigsten Gedanken formuliert allerdings Kerstin von der Schicken Mütze am ersten Abend: Es bringt nichts, mit dem Auto zum Kino zu fahren und Fahrradfilme anzuschauen. Wir müssen die Fahrradkultur auch leben.

Bild: Alexander Ignasiak
Und genau deshalb gehts am Sonntag aufs Rad. Unter dem Titel "A little bit of hell round Düsseldorf" lehnt sich die Ausfahrt an den Donnerstags-Film an - und die Strecke ist nicht von schlechten Eltern. Zwar kein Kopfsteinpflaster aus der Hölle, aber dafür zwei Hügel, die mich nach zwei Wochen komplett sportfreier Erkältungspause höllisch mitnehmen, etwas Schotter und dann ist da noch diese schlammige Schlagloch-Buckelpiste von Abfahrt durch den Wald (ich brauche einen Crosser!). Ich schaffe es so gerade eben, mich nicht auf die Fresse zu legen, und das auch nur, weil ich im allerletzten Moment noch ausweichen kann, als der Mensch vor mir mit seinem Rad einfach urplötzlich mitten auf dem Weg stehen bleibt. Immer eine top Idee in der Gruppe! Auf jeden Fall geht alles gut, Bruno macht die Tortur fröhlich mit und ich ahne, dass mir diese Sache mit den matschigen Wegen und dem Wald doch irgendwie Spaß machen könnte - mit einem anderen Rad, vor allem mit anderen Reifen, irgendwann.

Bild: Alexander Ignasiak
Die riesige Gruppe erregt Aufsehen. Wir sind viele. Menschen bleiben stehen und gucken, ein kleiner Junge jubelt: "Tour de France!" Jau Düsseldorf, da kommt was auf dich zu! Vom Sommer sind wir allerdings noch eine Weile entfernt. Das Wetter wechselt heute zwischen grau in grau und zaghaften Sonnenstrahlen. Die Luft schmeckt dezent nach Frühling und erinnert daran, dass bald endlich die Zeit kommt, zu der man die Überschuhe und Thermohose im Schrank einmotten kann, in kurz/kurz fahren kann und die Sonne auf den nackten Armen spürt. Wenns nach mir ginge, müsste das nicht mehr allzu lange dauern.

Bild: Steffen Weigold, @tempofest
Bild: Steffen Weigold, @tempofest
Ich schiele auf den Tacho und stelle fest, dass wir noch keine 30 Kilometer gefahren sind und ich eigentlich ganz gut bedient bin, trotz Cappucchino-Quassel-Tempo und inzwischen allerfeinstem Postkartenwetter. Aber es ist zu schön, um aufzuhören. Die restlichen 70 Kilometer sind flach und bei einer so riesigen Gruppe wirds nie langweilig. Alle paar Minuten habe ich einen neuen Nebenmann, bei etwa 50 Fahrern gleicht das Ganze hier sowieso mehr einer Klassenfahrt als irgendwas anderem. Ich höre viel englische Fachsimpelei, stelle fest, dass auch Kölner dabei sind (und zwar mit dem Fahrrad angereist!), sogar Frankfurter haben fürs Bicycle Film Festival den Weg nach Düsseldorf gefunden. Falls ihr zur Tour wieder kommen wollt, sagt Bescheid! Auf 100 Kilometern ist außerdem viel Zeit für Gespräche: Bruno lernt Olga kennen, weil ihr Besitzer ihm Komplimente macht. Sie ist allerdings keine Russin, sondern Koblenzerin, wohnhaft in Frankfurt, heute zu Gast auf den ein bisschen höllischen Straßen rund um Düsseldorf - Bicycle Film Festival, you are so international!

Bild: Steffen Weigold, @tempofest
Bild: Steffen Weigold, @tempofest
Als ich das nächste Mal auf den Tacho schiele, bin ich überrascht, dass er schon bei 75 Kilometern steht. Wo sind die letzten 45 denn hin verflogen? Ich habe plötzlich Knieschmerzen, und zwar von der Sorte, die mich überlegen lässt, wie ich von hier aus am besten nach Hause komme. Und zwar sofort. Aber hier greift die Magie des 50-Mann-Pelotons: Du findest immer jemanden, der dir das Ohr abkaut und dich jedes Mimimi vergessen lässt. Die Ablenkung funktioniert blendend: Wir verlieren uns in Renngeschichten, Horrorgeschichten, Angebergeschichten (kann ich auch! ha!) nur um am Ende zu der Erkenntnis zu gelangen, dass wir uns all das doch nur antun, weil wir das Gefühl so lieben. Wenn wir am Abend vor dem Rennen nichts essen können, wenn wir die Nacht nicht schlafen können und wenn wir zum Frühstück nichts runter kriegen - das ganze Drumherum gibts im normalen Alltag genauso wenig wie das Renngefühl selbst. Also versetzen wir uns zurück in unsere Kindheit, an den Abend vor dem Geburtstag, vor Weihnachten, vor der Klassenarbeit, an dem wir vor Aufregung nicht einschlafen können. Radfahren, mit Jahreskilometern, Höhenmetern und Durchschnittsgeschwindigkeiten prahlen, Grenzen austesten und verschieben - am Ende machen wir all das doch nur für das innere Kind. Lassen wir es spielen!

Bild: Steffen Weigold, @tempofest
Bild: Steffen Weigold, @tempofest
Der Vollständigkeit halber noch drei Sätze zum Sonntagbend: 1a vegetarisches Grillgedönse in der Schicke Mütze und inoffizieller Abschluss mit "Brevet", einem Film über einen Haufen verrückter Teilnehmer an Paris-Brest-Paris. 600 Kilometer mit dem Rad aus der Stadt in die eine Richtung bis ans Meer, umdrehen, 600 Kilometer auf der gleichen Strecke sofort zurück. Am Stück. Auf dem Rad. Natürlich. Zwischen 50 und 80 Stunden. Ich scheitere schon daran, das korrekt in Tage umzurechnen. Möglicherweise auf der Bucket List 2019, man möge mich davon abhalten.

Bild: Alexander Ignasiak
Bild: Alexander Ignasiak
Danke
Danke unbekannter Ticket-Schenker, danke Konrad fürs Einfädeln und für 50 Radler 100 Kilometer lang anführen. Danke Alexander mit den Socken mit Wiedererkennungswert für die traumhaften Fotos! Danke Malte fürs Knie vergessen Lassen und die treffende Verbalisierung der ziemlich schönen Erkenntnis; danke Steffen für die kontemplative Gesellschaft, epische Filmschnipsel (BFF Düsseldorf 2018!) und deine einmaligen Fotos, wie immer auf sehenswerte Weise während der Fahrt geschossen, mit einer Weste flatternd wie Supermans Cape. Liebe Schicke Mütze, liebes Open Source Festival, bitte habt euch noch lange lieb und beschert uns viele schöne kleine Bicycle Film Festivals. Was ihr da gezaubert habt, war großartig. Es war mir ein Fest!

Durch die Hölle gegangen ist bei der Ausfahrt nur einer: mein Festivalpass in der Trikottasche.
Bild: Kerstin Kortekamp, Schicke Mütze