Mittwoch, 9. Mai 2018

Raceday No. 56 - Rotterdam Marathon 2018

Mittagshitze. Kilometer 30. Aus dem Schlauch des Trinkrucksacks kommt nichts mehr raus und ich verstehe nicht, warum. Eben ging das noch. Manchmal ist ein Knick im Schlauch, also Rucksack abziehen, Schlauch entwirren, nochmal versuchen. Nichts. Nochmal prüfen. Kein Erfolg. Dann die Erkenntnis: Der Rucksack ist leer. Kein Wasser mehr. Oh Mann! Ich ärgere mich, dass ich nicht früher darauf gekommen bin. Noch zwölf Kilometer. Mit leerem Rucksack. Mein wunderhübscher Plan, dass ich in Rotterdam, dieser niederländischen Sauna, immer etwas zu trinken habe, scheitert also. Es ist heiß und ich will Wasser. Und zwar nicht alle paar Kilometer, sondern jederzeit. Ich will keine blöden Becher, ich will aus dem Schlauch ganz bequem kleine Schlucke trinken. Aber das kann ich nicht mehr, denn ich habe bereits den ganzen Rucksack leer gesoffen. Ich ärgere mich, dass ich absolut nicht bedacht habe, dass das passieren könnte. Anstatt den leeren Trinkrucksack einfach abzuhaken und mich ab jetzt auf die Getränkestände zu konzentrieren, stelle ich das gesamte Vorhaben Rotterdam-Marathon in Frage. Wenn der Plan sowieso schon wankt, warum überhaupt noch weiter machen?


Long story short: 2017 bin ich zuhause in Düsseldorf meinen ersten Marathon gelaufen. Schon beim Finish war mir klar, dass das nicht alles sein kann, dass ich das nochmal machen werde. Weil mich diese Herausforderung reizt, weil es mich antreibt, das noch einmal schaffen zu wollen, es besser zu machen und zufriedener zu sein. Die Gelegenheit kam mit Dein erster Marathon - ein Projekt von bunert und New Balance. Ich bin hier gleich doppelt involviert: Zum einen bei der Organisation des Projekts und zum anderen, weil ich mich entschlossen habe, selbst mitzulaufen. Auch wenn es nicht mein erster Marathon ist, bin ich am Vortag aufgeregter als so mancher Teilnehmer. Mir ist schlecht, ich zittere und bringe keinen geraden Satz raus. Na das kann ja was werden. Der holländische Zaubertrank Jupiler sorgt immerhin dafür, dass ich Schlaf finde.


Am Marathon-Morgen sieht die Welt zum Glück viel besser aus: Ich bin ruhig und voller Vorfreude. Ohne Angst. Und ich habe Bock! Niemand, der ein Herz hat, kann sich der Stimmung entziehen, die am Marathon-Morgen über der Stadt liegt. 15.000 Läufer pilgern die Zielgerade in verkehrter Richtung hinunter zum Start. Aus den Boxen schallt "You'll never walk alone", einige stimmen ein, ich habe einen freudigen Kloß im Hals und die ersten Tränchen des Tages in den Augen. Scheiße, falls ich gestern noch nicht wusste, weshalb ich das mache, dann jetzt. Genau dafür! Für diese Aufregung, diese wunderbare Anspannung und diese elektrisierte Luft.



Rotterdam ist großartig. Schon direkt nach dem Start führt die Strecke das erste Mal über die riesige Erasmus-Brücke. Gefühlt jedes Stückchen Streckenrand ist von Zuschauern gesäumt, die die perfekte Mischung aus Anfeuern und Party feiern finden. Nicht so übertrieben wie in Venlo, sondern sympathisch und herzlich. Mit genug Zeit, Namen abzulesen und einzelne Läufer anzufeuern. Und mit einem Händchen dafür, was die Läufer gebrauchen könnten: Unabhängig von den offiziellen Verpflegungsständen bieten die Zuschauer Wasser, Salzstangen, Gummibärchen oder Orangenscheiben an. Wenn die hier jetzt noch gute Musik und weniger Scooter spielen würden ...


Ich hadere mit meiner Taktik. Der Start war erst um 10.30 Uhr, ich habe vor, 4:30 Stunden zu laufen und dieser Tag ist ausgerechnet der erste, an dem es richtig warm wird. Ich habe lange Läufe bei Minustemperaturen gemacht, war bei Schnee, Regen und Hagel draußen, aber ich bin nicht auf 25° und Sonne eingestellt. Noch nicht, es ist gerade mal Frühling! Ich schwanke zwischen "langsam und ruhig durchlaufen" und "lieber am Anfang nicht zu sehr trödeln (aber auch nicht überpacen), denn hart wird es auf jeden Fall irgendwann - besser du bist dann schon so weit wie möglich gekommen". Der Grat ist schmal. Ich entscheide mich für eine vorsichtige Version von Variante zwei und laufe minimal schneller als geplant - 06:15 statt 6:20 min/km bis Kilometer 25.


Die Beine fühlen sich anfangs nicht gut an, aber ich komme gut rein. Ich treffe den Mittelweg ganz gut, will es auf keinen Fall übertreiben, aber auch nicht länger als nötig unterwegs sein. Die erste Hälfte vergeht trotz Pipipause bei Kilometer 18 schnell. Von den Kilometermarkierungen kommt eine nach der anderen und ich kann die Stimmung genießen. Nach dem zweiten Überqueren der Brücke dämmert mir: So einfach wird es nicht weiter gehen. Ich habe mich gut verpflegt, meine Gels planmäßig genommen und genug getrunken. Die Beine sind mittlerweile gut, trotzdem nehme ich Tempo raus. Da kommt noch einiges auf mich zu.

Zum Beispiel bei Kilometer 30 das Rucksack-Gate. Blöd, dass mentaler und körperlicher Tiefpunkt hier exakt aufeinander treffen. Ich merke, wie mir die Energie ausgeht, bekomme Kreislaufprobleme, Magenschmerzen und zweifle zum ersten und einzigen Mal. Gehpause. Keine andere Chance. Ich beschließe, dass der Magen schlimmer nicht werden kann und nehme ein Iso-Getränk des Veranstalters - normalerweise mache ich mit meinem empfindlichen Magen damit keine Experimente. Schlimmer als jetzt wäre nur noch Übergeben, danach fühlt es sich gerade nicht an, also rein damit. Wichtiger ist es, den Kreislauf wieder anzuschubsen. Das Iso bleibt drin, also drücke ich das letzte Gel hinterher. Ich schleppe mich mit einer Mischung aus wenig laufen und viel gehen bis Kilometer 34 und auf einmal ist es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.


Ich kann wieder laufen. Mit dem Wissen, dass meine 4:30 Stunden nicht mehr drin sind (außer ich renne die letzen acht Kilometer und das ist keine Option), laufe ich einfach so, wie ich mag. Das ist nicht flott, aber immerhin genauso schnell wie von Kilometer 25-30. Ich freue mich absurd darüber, dass die Beine absolut keine Probleme machen, dass auch der Rest wieder mitspielt und dass ich vor allem wieder laufen will. Da ist nicht genug Ehrgeiz, um noch um irgendeine möglichst schnelle Zeit zu kämpfen, aber immerhin so viel, um nicht komplett zu bummeln. An den Getränkeständen gönne ich mir kurze Pausen, dazwischen laufe ich so, wie es sich gut anfühlt.

Die letzten beiden Kilometer ziehen sich wie Kaugummi. Gleichzeitig sind sie wunderschön, weil die Zuschauerreihen immer dichter werden und das Publikum anders anfeuert als bei Kilometer 5 oder 10. Alle, die hier vorbeilaufen, haben es gleich geschafft. Ich auch. Und daher versuche ich, alles in mich aufzusaugen. All diese Menschen, die Stimmung, diese bittersüße Mischung aus Anstrengung und Glück und Stolz. Ich muss nicht auf jedem Kilometer Spaß am Laufen haben, ich mache das für genau diese Momente. Für das Gefühl, um die letzte Kurve zu biegen und die Zielgerade in schier unerreichbarer Entfernung zu entdecken. Zwei Stimmen im Kopf brüllen gleich laut: "Gleich geschafft!" und "Oh Kacke, noch so weit?!"


Wenn du bis Kilometer 42 gekommen bist, fängst du nicht auf den letzten 200 Metern noch an zu gehen. Oder ans Aufhören zu denken. Wenn du das geschafft hast, läufst du ins Ziel, so schnell wie deine Beine dich noch tragen. Weil es egal ist, wie weit das exakt weg ist - wenn du es sehen kannst, schaffst du auch diese letzten Meter. Als Belohnung gibt es eine goldene Medaille - selbst für Platz 9.000-irgendwas - und eine Rose. Ich halte beides in Ehren, aber ich muss auch verdammt dringend zum Klo. Und was trinken. Und endlich zurück zu den Fans stiefeln, um zu berichten, wie schrecklich und wie schön das war.

04:35:14 Stunden lang habe ich bis auf kurze Begegnungen mit anderen aus dem Team alles mit mir selbst ausgemacht. War alleine zwischen 15.000, komplett abgetaucht in meiner eigenen Marathon-Welt. Ich freue mich drauf, langsam wieder in die Realität zurück zu kehren, und ich weiß mittlerweile: Ich will nochmal in dieses Wasser springen. Nicht mit der Motivation, etwas besser zu machen. Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis unter den Bedingungen und zufrieden mit meinem ziemlich schnell gewonnenen Kampf. Ich will das einfach nochmal machen.


Fotos: Christian Siedler. Danke, danke, danke!
Danke an den bunert Onlineshop, an New Balance und an all diese fantastischen Menschen, die dieses Projekt zu dem gemacht haben, was es war: Fantastisch. Danke!