Donnerstag, 17. Juni 2021

Orbit360 - Spooky Sputnik: Wälder, Seen, der Routenberechnungsfehler und ich

Ich bin da in etwas hinein geraten. Es ist eine komische Bubble, in der ich mich dabei ertappe, völlig unironisch Sätze zu sagen wie: "150 Kilometer und 700 Höhenmeter? Das ist eine der kurzen und einfachen Strecken." Oder: "Ich hab ein Kilo gekochte Kartoffeln in der Fahrradtasche." Ja klar. Ich hatte bei meinem ersten Orbit zwar keine Kartoffeln dabei, aber dafür zwei Stücke Pizza vom Abend zuvor. 

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Orbit? Was ist das?

Orbit360 ist eine Gravel-Rennserie, bei der es in diesem Jahr 18 Routen gibt, die querfeldein jeweils 150 bis 200 Kilometer im Kreis führen. An Höhenmetern ist von 500 bis mehr als 4000 auch alles dabei. Die Bodenbeschaffenheit vermeidet Asphalt größtenteils und hat stattdessen alles zu bieten, was es zwischen Schotter, Waldwegen, Sand, Wiese und Geröll so gibt. Für jedes gefinishte Orbit innerhalb von 10 Wochen gibt es Punkte, die schnellsten 30 Fahrer:innen bekommen Extrapunkte und wer mehr Orbits schafft, bekommt auch noch Serienpunkte. Ich hatte letztes Jahr schon große Lust, mir die NRW-Strecke in der Eifel anzutun, habe mich dann aber mangels geeigneten Rades dagegen entschieden. Dieses Jahr haben Orbit360 und Votec den oder die Super Orbiter:in gesucht und mit einem Testrad gelockt, das für die Dauer der Serie zur Verfügung gestellt wird. Ich hab mich beworben und mir eine doofe Geschichte dazu ausgedacht: Mit meinem alten Crosser bräuchte ich gar nicht starten, da könnte ich auch gleich zu Fuß gehen - was ich auch tun würde, wenn ich das Votec für die Orbits gewinne. Nun, ich werde dieses Jahr noch eine lange Wanderung machen müssen. Entweder haben mich viele Leute gern und gönnen mir ein tolles Rad für ein paar Wochen, oder sie wollen mich leiden sehen. Oder beides. 

Die Vorbereitung 

Nennenswerte Radfahrten im letzten halben Jahr: Eine Woche #Festive500 zwischen den Feiertagen und dann Orbit #rideFAR 180 Kilometer im März. Auf der Straße. Ansonsten hier und da mal ein bisschen, aber nichts, was man im Entferntesten als Training bezeichnen könnte. Wieso? Schweinehund, Wetter, noch keine Routinen am neuen Wohnort, dies das. Aber jetzt: Endlich ein Ziel. Oder mehrere. Orbits finishen. Lange Strecken kenne ich auf Asphalt, aber nicht im Gelände. Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt, so ein richtiger Rookie zu sein und keine Ahnung zu haben, was man da eigentlich genau tut - aber jetzt weiß ichs wieder. Ich habe ordentlichen Respekt vor so vielen Kilometern und Höhenmetern und der Zeit und Kraft, die das alles bei ruppigen Untergründen kostet. Blöderweise bin ich aktuell wirklich ziemlich untrainiert und fühle mich auch genauso. Bleibt nur ein Ausweg: Mut zur Langsamkeit. 

Das neue Pony ist also hier eingetroffen und so wagen das Votec VRC Evo und ich einen ersten Ausflug in den Orbit-Kosmos. Was für eine organisatorische, vor allem logistische und zeitliche, aber auch finanzielle Herausforderung hinter einer über ganz Deutschland verteilten Rennserie steckt, wird mir spätestens bei der Planung meiner Starts dann auch klar. Ein glücklicher Zufall will es so, dass ich eine Mitfahrgelegenheit von Düsseldorf nach Templin finde - sonntags hin, montags zurück. Kurz durchrechnen, ob die Abfahrtszeit machbar ist oder ob ich mich gleich beim ersten Start mit einem engen Zeitfenster zu sehr unter Druck setze, aber: 12 Stunden brutto sollten machbar sein und noch Zeit für eine Dusche lassen.

Essen ist wichtig!

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie lange ich wirklich für 152 Kilometer im Gelände brauche und auch nicht, wie ich mich währenddessen verpflege. Ich packe folgendes in die Taschen: zwei Riegel, zwei Koffein-Gels, zwei Tüten getrocknete Mango (bei #rideFAR hatte ich eine verspeist und denke jetzt: viel hilft viel) und einen Apfel. Weil vom Abendessen noch Pizza übrig ist (seriously!), wickele ich mir die beiden Stücke auch noch in Wachstücher und hoffe, irgendwann wird der Moment kommen, an dem ich nichts Süßes mehr will und mich darüber freue. Die Kartoffel-Philosophie sozusagen. Als Start lege ich 5 Uhr morgens fest, damit ich pünktlich zur Rückfahrt wieder da bin. Um kurz vor halb 6 komme ich an meinem selbstgewählten Startpunkt auf der Route an. An einem Montagmorgen um diese Zeit sind keine Menschen unterwegs, aber dafür ein Fuchs. Ich halte die Augen offen, weil ich gehört habe, dass es auch Wölfe und Seeadler in der Gegend geben soll - gesehen habe ich nichts davon. 

Die Uckermark besteht aus Kiefernwäldern und Seen. Die ersten Stunden fühlen sich magisch an: die großen, schlanken Bäume, Nebel über Feldern und Wasser, völlige Einsamkeit und Stille bis auf Vogelgezwitscher und Fahrradgeräusche. Ein Kuckuck ruft, Silhouetten von Kranichen zeichnen sich auf dem Feld ab. Ganz und gar nicht meine Uhrzeit, aber ich spüre keine Müdigkeit. Generell sind Tage, an denen man solche Vorhaben wie Orbits angeht, irgendwie aus der Zeit gefallen. Klar ist das hier eigentlich ein Rennen und klar steht meine Gesamtzeit am Ende in einem Ranking, aber in erster Linie fahre ich ja, um anzukommen. Um herauszufinden, wie 152 Kilometer in der sandigen Uckermark sich so anfühlen. Wie es ist, wenn ich so lange mit mir selbst alleine bin, wann ich mir auf den Keks gehe und wie ich damit umgehe. Es ist ziemlich schön, einen Tag lang nichts anderes im Kopf zu haben als Fortbewegung und Verpflegung. 

 

Die liebe Technik

Was mir zuerst auf den Wecker geht, ist das Sitzen. Die Hose ist erprobt, sie hat schon 280 Kilometer auf dem Rennrad mitgemacht. Den Sattel fand ich bei meinen kurzen Testfahrten in Ordnung und so dachte ich: Sitzcreme regelt. Turns out: Sitzcreme regelt gar nichts, schon nach 12 Kilometern muss ich sie neu auftragen. Uff. Wenn das so weitergeht, wird der Tag lang und schmerzhaft. Die Technik bietet ebenfalls Potential für Aufreger: Ich habe die Route aus der Komoot-Collection heruntergeladen und navigiere mit einem Garmin 1000. Eigentlich. Wenn da nicht der Routenberechnungsfehler wäre. Der wird mir nämlich alle paar Sekunden angezeigt, woraufhin ich ihn wegdrücke, um dann wieder die Route zu sehen. Manchmal wandert die Karte nicht schnell genug weiter, oft weiß das Gerät nicht, wo ich gerade bin, manchmal habe ich wegen ruppigem Boden auch einfach keine Hand frei, um aufs Display zu tippen und den Fehler zu entfernen. 

Noch nie war ein Routenberechnungsfehler so hartnäckig. Von Zeit zu Zeit kommt einer, dann geht er wieder. Dieser hier bleibt. Spätestens alle 30 Sekunden ist er wieder da. Ich mag ihn nicht. Ich möchte, dass er verschwindet. Nach 50 Kilometern beginne ich zu akzeptieren, dass er nicht weggehen wird. Er wird mich begleiten, und anstatt mich darüber aufzuregen, freunde ich mich mit ihm an. Der Routenberechnungsfehler und ich, wir machen das hier heute zusammen. 

Hin und wieder gesellt sich noch eine Streckenabweichung dazu. Ich mag sie noch weniger. Sie ist echt nervig, aber nun gut, sie ist nun mal da. Ich verpasse Abzweigungen, weil ich den Fehler zu spät wegdrücke oder weil die Karte nicht nachlädt oder das GPS ungenau ist. Anhalten, umdrehen, weitermachen. 

Ich verstehe irgendwann, dass Sitzprobleme und Fehlermeldung wegdrücken zusammenhängen, weil ich alle paar Sekunden nur eine Hand am Lenker habe und das Gewicht verlagere. Ich creme nochmal ordentlich nach und versuche darauf zu achten, beim ständigen Tippen aufs Navi nicht zu sehr hin und her zu rutschen. It's magic: Keine Schmerzen mehr ab der Freundschaft mit dem Routenberechnungsfehler und selbst am Ende der Tour keine Wehwehchen an sensiblen Stellen zu beklagen. 

Langsamkeit aushalten

Was ich am Rennradfahren liebe, ist, dass man sich fast mühelos schnell fortbewegen kann. Beim Crossen oder Graveln liebe ich es, mitten in der Natur zu sein, aber ich kämpfe echt damit, mich an die Langsamkeit zu gewöhnen. Mit 10 km/h über einen Waldweg zu eiern ist einfach so weit entfernt von der Art von Radfahren, an der mein Herz hängt. Und immer dann, wenn es gerade mal ein bisschen besser und zügiger rollt, kommt neuer Sand daher. Danke Brandenburg. 

Ich versuche, Zwischenzeiten hochzurechnen. Wie lange wird es dauern, wenn ich so langsam weiterfahre? Die Überlegung beruhigt mich in keiner Weise, also fahre ich einfach. Ich freue mich über Einsamkeit, Bäume, Wasser, Vögel, Rehe, Hasen. Über den Abstecher auf einen alten russischen Militärflughafen - Spooky Sputnik, I feel you. Über einen flowigen Trail direkt an der Havel. Über eine Eisdiele, obwohl ich gar keine Pause machen wollte. Aber Hitze und eine verpasste Möglichkeit, Wasser nachzufüllen, zwingen mich zur Pause. Mein Mund fühlt sich so trocken an, dass ich kaum schlucken kann - da muss definitiv ein Eis rein. Und Cola. Und mehr Wasser. Während es beim Start heute Morgen noch 8° waren, sind es jetzt 29°. 

Finish

Das bisschen Zivilisation in Fürstenberg liegt schnell hinter mir, schon führt die Route mich wieder in den Wald, wieder über holprige Wege und so langsam wird es wirklich zäh. Ich zweifle nicht daran, anzukommen. Was hätte ich auch für eine Wahl? Der Handyempfang ist gleich Null, Bahnhöfe sind eher spärlich gesät und außerdem bin ich ja nicht in die Uckermark gefahren, um aufzuhören, wenn es ein bisschen anstrengend wird. Der Rücken will hin und wieder mal gedehnt werden, aber abgesehen davon geht es mir gut. Vor einigen Kilometern, als ich bis zu den Knöcheln im Sand gesteckt habe (und einmal unfreiwillig auf dem Rücken lag und mir den Wald von unten angesehen habe), da habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als Asphalt. Ein Rennrad und stumpf geradeaus. Kopf aus und gib ihm. Mein Wunsch wird erfüllt, nach ungefähr 135 Kilometern bin ich auf einmal auf einer zauberhaften Fahrradstraße und kann mein Glück kaum fassen. Es rollt von selbst! Wie fliegen! Ohne Anstrengung! Ich realisiere langsam, dass ich es bald geschafft habe und bekomme Lust, nochmal ein wenig reinzutreten. So muss sich das anfühlen! 

Ich feiere die Wahl meines Startpunktes, der mir den schönsten Radweg zum Ende beschert hat - und dafür die anstrengendsten Teile der Strecke direkt zu Beginn. Und dann - nach 152 Kilometern, 10 Stunden und 20 Minuten, bin ich wieder am Start angelangt. Hier war ich heute Morgen schon mal - fühlt sich an, wie in einem anderen Leben. Ein Tag, an dem die Zeit still steht, obwohl sie die ganze Zeit läuft. Erstes Orbit: check!